Veröffentlicht in fiction

Über den Tod hinaus

Raffael, Don Pedros Freund, ist tot.

Nein, Pedro war nicht mehr Raffaels Freund gewesen. Sie waren vor über zehn Jahren im Unfrieden geschieden und hatten sich nie mehr versöhnt. Pedro hat mir das erzählt.

Und doch …

Raffael und Pedro hatten sich während des Studiums kennengelernt und waren in vielen Dingen ein kongeniales Paar. Beide belesen, beide politisch undogmatisch links-alternativ und auf Distanz zum korrupten „sistemo“ der Einheitspartei, beide ironisch bis zum gelegentlichen Zynismus und zynisch bis zu vereinzeltem Sarkasmus. Beide böse Mundwerker, die sich über alles und jeden lustig machten konnten und denen nichts heilig war – schon gar nicht Religion. Pedro vom Studienerfolg her eher braver Humanwissenschaftler aus kleinbürgerlichem Hause, Raffael Betriebswirt und eines der wenigen Kinder aus den Slums der Metropole, die es an die Universität geschafft hatten. Beide früh mit Computern beschäftigt und von der Computerei infiziert. Beide waren sie „Klugscheißer“, die ihre Weisheit mit großen Löffeln gefressen hatten. Zu ihren Identifikationsfiguren gehörten Statler und Waldorf, die Balkonspötter aus der Muppets Show.

Als er selbst Assistent an der Uni war, schanzte Pedro Raffael manchmal kleine Jobs zu. Programmier- und Archiviertätigkeiten, die Raffael interessierten und in denen er akribisch gut war. Pedro litt manchmal unter Raffaels dauernden Balanceakt an der Existenzgrenze und versuchte lange Zeit, ungefragt Stellenanzeigen für ihn zu sammeln und zu sichten und ging ihm damit entsetzlich auf die Nerven. Denn Raffael wollte lieber freier Kleinstunternehmer an der Existenzgrenze bleiben als als Angestellter Knecht zu werden. Man müsse sein Eigentum jederzeit in einem kleinen Koffer mitnehmen können, war seine Devise.

Sie konnten zusammen große Wirkung entfalten; sie ergänzten sich prächtig. Nicht immer gelang ihnen das zum Guten. Mir hat Pedro von einer Partie Trivial Pursuit erzählt, gespielt in einer kleinen Gruppe von 6 Personen, 3 Frauen gegen 3 Männer wurde vereinbart. Raffael, Pedro und ein Universitätsdozent waren die Männer, eine Ärztin und zwei Krankenschwestern die Frauen. Die Männer gewannen 6:0; sie wussten schlicht alles, was Trivial Pursuit wissen wollte. Entweder wusste Raffael die richtige Antwort oder Pedro, den Universitätsdozenten ließen die beiden ab und zu was beitragen, er war aber nicht von Bedeutung. In Literatur, Technik, Geschichte und Politik waren beide gut und in der Regel einig über die Antwort, im Sport kannte Raffael sich nicht aus, dafür aber Pedro; Pedros Schwächen in Biologie und Popkultur kompensierte Raffael. Es war bedrückend; letztlich für alle 6 – und Raffael meinte nachher, er werde dieses Spiel nie mehr spielen.

Raffael zog einen Programmierauftrag an Land: den gesamten Produktionsprozess eines Recyclingunternehmens zu erfassen. Vom Eingang der verdreckten Materialien über die Erfassung der Reinigungsprozesse mit der Verrechnung der anfallenden Arbeitsstunden bis zur Abfüllung der gesäuberten Pellets als Rohmaterial für weitere Produktionen. Abzubilden in einer „relationalen“ Datenbank am PC. Am PC!!! Das war vorgegeben. Raffael war ziemlich überfordert, aber der Auftrag war wichtig für ihn. Also fragte er Pedro um Unterstützung. Gemeinsam schafften sie eine saubere Analyse der anfallenden Daten und gingen dabei oft bis an die Grenze des Streits und darüber hinaus. Raffael lebte für seine Verhältnisse gut vom Auftrag, Pedro bekam auch seine Programmierhonorare, die für ihn aber eher ein ehrenvolles Zubrot waren. Monatelang, sagt Pedro, kämpften sie Seite an Seite miteinander und manchmal gegeneinander und gegen die Datenstruktur.

Als Pedro sich in Elena verliebte und von einem Tag auf den anderen aus seiner Wohnung auszog, fand er Unterschlupf bei Raffael und dem Universitätsdozenten in ihrer gemeinsamen Wohngemeinschaft. Nur kurz, aber es war sehr wichtig.

Pedro heiratete seine Geliebte, Raffael war Trauzeuge. Sie verbrachten auch gemeinsame Urlaube: Pedro, Elena, Raffael und der Dozent.

Dann machte Pedro Karriere und wurde Geschäftsführer eines Betriebs. Irgendwann wurde in der Firma eine Stelle ausgeschrieben. Raffael bewarb sich und Pedro traf sich mit ihm vor den entscheidenden hearings und coachte ihn. Das war eines ihrer letzten Gespräche. Pedro setzte sich zwar im Rahmen seiner Möglichkeiten für seinen Freund ein, aber Raffael konnte den Personalchef nicht überzeugen und bekam die Stelle nicht.

Raffael erklärte Pedro danach, dass er von ihm zutiefst enttäuscht sei und mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle. Pedro war konsterniert: er hatte sich doch im Rahmen des Möglichen für ihn eingesetzt, und Protektion war doch das letzte, das sie wollten.

Zwei Versuche Pedros einer Kontaktaufnahme im Zeitraum einiger Wochen lehnte Raffael brüsk ab. Sagt Pedro.

Dann vergingen über zehn Jahre. Pedro sah Raffael nur mehr zwei, drei mal zufällig.

Dann starb Raffael.

Pedro behauptet, Ana, Raffaels Lebensgefährtin, habe ihn vor Beginn der Trauerfeier aufgefordert, an dieser nicht teilzunehmen. Es gebe zwei Personen, mit denen Raffael noch etwas offen habe: Pedro sei eine davon.

Pedro und Elena gingen.

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