Der Falter wirbt für sich …
Auf der letzten Seite des österreichischen Magazins Falter habe ich eine Eigenwerbung der Zeitschrift gefunden. Die ist sehr subtil und sophisticated geworden. Respekt!
So sieht das in etwa aus:
Zunächst eine Behauptung, die heutzutage vielleicht nicht mehr ganz selbstverständlich ist: „Wahrheit existiert.“ Ja, in einer Gesellschaft sich überkugelnder „Informationen“ verschiedenster Qualität ist das nicht mehr selbstverständlich. Und ich stimme dem Falter zu: es gibt so etwas wie Wahrheit. Sie existiert. In einer Zeit, in der die höchst-offiziellen Lügen als „Truth Social“ publiziert werden, ist das wichtig.
Das Bild konterkariert den Satz zunächst: ein Flugtier irgendwo zwischen Adler und Falter. Ganz „wahr“ ist dieses Vieh nicht. Im übertragenen Sinn könnte hier der Anspruch erhoben werden, dass auch ein Falter, ein Schmetterling gelegentlich wie ein Adler, ein Raubvogel auftreten könnte. Und dass es nicht leicht ist zu entscheiden, als was dieses Ding da gerade geflogen kommt.
Ja, der Falter hat sich in den fast schon 50 Jahren seines Bestehens von einer (vor allem) Programmzeitschrift zu einem Blatt, das von ausgezeichneten Journalist*innen gemacht wird, gemausert. „gemausert“ im wahrsten Sinn: er hat sein Federkleid gewechselt. Heute gehört er zu den wirkungsvollsten investigativen Medien des Landes.
… mit einer Charta
Die „Charta“, die sich unter dem angegebenen Link finden lässt, ist kurz:
Wir leben in einer seltsamen Welt. Zu jedem Faktum gibt es einen „Gegenfakt“,
zu jeder Wahrheit eine „Gegenwahrheit“.
Wer soll sich da noch auskennen? Wem können wir vertrauen?Wir vom FALTER wollen Sie aus dieser Unsicherheit herausholen und die „bestmögliche Version der Wahrheit“ suchen. Um unsere Arbeit zu verstehen, stellen wir Ihnen an dieser Stelle unsere Charta vor. Sie erklärt Ihnen unsere Grundsätze, wie wir arbeiten und wie wir strukturiert sind.
Wahrheit existiert.
Wir möchten ihr so nahe wie möglich kommen.
Deshalb recherchieren wir mit allem, was wir haben.
Dazu müssen wir unabhängig sein.
Wir trennen Redaktion von Reklame.
Streit nützt der Wahrheitsfindung.
Damit Sie uns vertrauen können, wenn Sie sagen:
„Hol mich hier raus, FALTER!“
Ja, das ist gut. Dem stimme ich zu, voll und ganz. Es ist wichtig, dass die Wahrheit existiert und dass man „ihr so nahe wie möglich kommen“ will.
Eine weitere Ebene
Ich bin Germanist; so weit ein bisschen Textinterpretation als berufliche Fingerübung.
Der Text mit seinem Bild hat aber noch eine weitere Ebene; die erschließt sich aber nur jemandem, der ein bisschen Mathematik kann. Ich bin auch Mathematiker …
In der Mathematik geht es ums Beweisen von Sachverhalten nach strengen logischen Prinzipien. Sehr oft geht es darum zu beweisen, dass etwas existiert: dass eine Gleichung z.B. eine Lösung hat. Das ist nicht immer leicht. Der Falter beweist auch nicht, dass die Wahrheit existiert; jedenfalls nicht in dieser Seite Eigenwerbung. Da behauptet er nur, dass es Wahrheit gibt. „Beweisen“ kann er das nur in seinem wöchentlichen Erscheinen, in der Gesamtheit seiner Texte, in der Überprüfbarkeit dieser Texte.
Aber die Mathematik begnügt sich in aller Regel nicht mit einem Existenzbeweis. Erfolgreich ist eine Mathematikerin, ein Mathematiker, wenn es ihnen gelingt, auch einen Eindeutigkeitsbeweis zu liefern. „Die Lösung existiert und sie ist eindeutig“ – so ein Beweis ist das ultimative Ziel mathematischer Tätigkeit. Es ist einfach sehr praktisch, wenn man nicht nur über die Existenz Bescheid weiß, sondern auch über die Einzigartigkeit. Oft ist das nicht gegeben: da gibt es Lösungen, aber nicht nur eine, sondern zwei, drei, viele, unendlich viele. Das kann unbefriedigend sein.
Dass sich der Falter auch um die Eindeutigkeit der existierenden Wahrheit kümmert, behauptet er in der Werbeanzeige nicht. In der Charta kommt das aber schon vor, wenigstens angedeutet. Dass man einer Wahrheit „so nahe wie möglich kommen will“, lässt durchaus den Gedanken zu, dass es in einer Sache auch mehrere „Wahrheiten“, mehrere Lösungen geben kann. Es kann sein, dass der Adler eine andere „Wahrheit“ erkennt als der Schmetterling. Und dass erst beide Perspektiven zusammen das ganze Bild ergeben. Es geht um die „bestmögliche Version der Wahrheit“.
Ganz klar ist aber, dass eben nicht alles wahr ist: manches – ich würde sagen: Vieles – ist einfach erstunken und erlogen, und die gefährlichsten Lügen sind die Halbwahrheiten. Es geht darum, das Erstunkene und Erlogene benennbar und damit erkennbar zu machen.
Es gibt den „Schmetterlingseffekt“. In dynamischen Systemen kann es wahr werden, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas entstehen lässt. Der Flügelschlag und der Tornado: zwei Seiten einer Wahrheit.
subtil & sophisticated
Ja, so ist diese Werbung. Ich würde zu gerne wissen, ob die Autorin / der Autor das alles mitgedacht hat.
Man kann den Falter auch abonnieren. Leider gelingt es mir nicht, den Preis eines reinen Digital-Abos zu eruieren. (Papier will ich nicht; ist schon zu viel Papier im Haus.) Aber ein Freund schickt mir diese Anzeige:
Also 18 € für 4 Wochen, 163 € für ein Jahr; im Jahr sind das dann gut 3 € pro Ausgabe. Ich denk, das passt mir.
Ergänzung am 7.4.: Die Tarife stimmen; ich bin jetzt Digital-Abonnent.