Veröffentlicht in Politik

Die hohe Kunst der Diplomatie?

Kurz greift ein

Außenminister Sebastian Kurz hat per Veto eine gemeinsame Erklärung des EU-Ministerrats zu den Beitrittsgesprächen mit der Türkei blockiert. Kurz ist für das sofortige Einfrieren der Beitrittsgespräche. Er sei aber auch „weiter offen für Dialog und Kooperation“, lässt er ausrichten.

Gestern im Standard auf der Titelseite: „Türkei will ‚auf allen Ebenen‘ gegen Österreich auftreten“. Der türkische Außenminister drohte mit der Aufkündigung aller Vereinbarungen mit der EU.

Wem hat Kurz mit seiner Vorgangsweise genützt?

Das türkische Regime unter Erdogan entwickelt sich – aus meiner mitteleuropäisch geprägten Sicht – in großer Geschwindigkeit in Richtung einer faschistischen Diktatur, die Pressefreiheit abschafft und ganze Bevölkerungsgruppen systematisch benachteiligt, wenn nicht verfolgt. Es ist aus meiner Sicht undenkbar, dass so ein Staat der EU beitritt.

Aber wem hat Kurz genützt?

Der türkischen Opposition? Nein. Die hat nichts davon, wenn die EU keine einheitliche Position beziehen kann.

Österreich? Nein. Die Beziehungen zur Türkei sind momentan kaum mehr existent. Wollen wir, brauchen wir Handelsbeziehungen zur Türkei? Vermutlich schon.

Der türkischen community in Österreich? Nein, die sitzen jetzt noch mehr zwischen allen Stühlen, egal ob Erdogan-Anhänger oder Erdogan-Gegner.

Der österreichischen Flüchtlingspolitik? Nein, wenn die Türkei EU-Verträge aufkündigt, kommen die in der Türkei „geparkten“ Flüchtlinge wieder nach Europa. Und wenn sich die Türkei so weiterentwickelt, kommen noch türkische politische Flüchtlinge hinzu. (Ich halte den Versuch, das sogenannte „Flüchtlingsproblem“ mithilfe der Türkei zu „lösen“, sowieso für unverantwortlich.)

Hat Kurz irgendjemandem genützt?

Erdogan? Ja, unter Umständen. Der Diktator hat jetzt einen vorzeigbaren, abbildbaren Feind. Das ist praktisch für einen Politiker wie Erdogan.

Kurz selbst? Ja, unter Umständen. Kurz hat sich profiliert. Kurzfristig, in Österreich und in der EU.

War Kurz klug?

Die Kunst der Diplomatie wäre wohl, in einem Land, das dermaßen in einer politischen Krise steckt wie die Türkei, demokratische Kräfte und Pluralismus zu stärken. Auf Deeskalation zu setzen. Handelsbeziehungen dafür zu nutzen.

Kurz war nicht klug. Kurz ist kurz-sichtig. Er sieht offenbar hauptsächlich seine eigene Profilierung. Dafür nimmt Kurz gravierende Folgen in Kauf; kurz-fristig, kurz-sichtig.

Als in Deutschland der Nazionalsozialismus aufkam, reagierten andere europäische Staaten mit dem sog. „appeasement“, einer Politik der Beschwichtigung und der Zugeständnisse an die Nazis, gedacht zur Kriegsverhinderung. Ich möchte keinem appeasement gegenüber Erdogan das Wort reden; es geht hier auch nicht um Krieg oder Kriegsvermeidung. Aber es geht um eine Einflussnahme zugunsten der Stärkung von Demokratie und Pluralismus.

Sebastian Kurz beherrscht nicht die hohe Kunst der Diplomatie. Er beherrscht die niedere Kunst der kurzsichtigen Selbstvermarktung.

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