Der Stand
Wir gehen in eine Zeit einer massiven Militarisierung Europas bzw. der EU; das kündigt sich schon länger zunächst vage an, wird aber nun durch die „Politik“ (oder das Tohuwabohu) von Trump 2.0 scharf akzentuiert. Die Rede, die der französische Senator Claude Malhuret gehalten hat und in der er das System Trump 2.0 profund analysiert und attackiert – und die deswegen bereits berühmt geworden ist (bis in meinen Blog, wo allein die Auflistung von Links und danach noch die Publikation von Transkripten zu einer ungewöhnlich großen Menge von Klicks und einem hohen „Rank“ in Google geführt haben), benennt ganz klar die Notwendigkeit einer massiven Bewaffnung Europas. Das ist aus der Sicht der „Parteien der Mitte“ (aus denen Malhuret stammt) unbestritten: in Deutschland arbeiten bereits CDU/CSU und SPD an einer Regierung, die mit einem „Sondervermögen“ (also Schulden) Deutschland und damit die EU aufrüsten will.
Die Aufteilung der Welt in Einflusssphären
Malhuret unterstellt sehr direkt – und nachvollziehbar! – die Absicht Trumps und Putins, sich die Welt aufzuteilen: „À moi le Groenland, le Panama et le Canada, à toi l’Ukraine, les Pays-Baltes et l’Europe de l’Est, à lui Taïwan et la mer de Chine“ / „Mir gehören Grönland, Panama und Kanada, Dir die Ukraine, das Baltikum und Osteuropa, für ihn ist Taiwan und das Chinesische Meer.“ Wenn das stimmt – und es ist Trump 2.0 und Putin zuzutrauen, sieht es aus europäischer Sicht für die europäische Sicherheit düster aus. Und Österreich wird seine Neutralität womöglich neu interpretieren müssen. Die neue österreichische Außenministerin Meinl-Reisinger (NEOS) sieht das offensichtlich auch so.
Aber das ist noch nicht ausgemacht
Ich bin Mitglied der österreichischen Solidarwerkstatt und bekomme und lese ihre Aussendungen – und bin oft nicht völlig einverstanden. Gerald Oberansmayr von der Solidarwerkstatt hat das Programm der neuen Bundesregierung analysiert und einen gravierenden Angriff auf Neutralität und Staatsvertrag entdeckt – neben einigen anderen „Mängeln“ im Regierungsprogramm. Und er kommt zum Schluss:
diese Regierung will das offene Ende der 2. Republik, will den vollständigen Bruch mit einem „unabhängigen und demokratischen Österreich“, wie es der Staatsvertrag vorsieht, will das finale Ende der Neutralität und ihr Aufgehen in einer Supermacht EU
Das sei im Regierungsprogramm ziemlich versteckt.
Auch Malhuret ortet die extreme Linke wie die extreme Rechte als „Kumpane Putins“ – und damit implizit als Zuarbeiter von Trump 2.0:
Wir müssen die öffentliche Meinung angesichts der Kriegsmüdigkeit und Angst und insbesondere angesichts der Kumpane Putins, der extremen Rechten und der extremen Linken, überzeugen.
In Österreich gibt es als Parteien kaum eine wahrnehmbare – weil zerstrittene – Linke: außer lokal und regional die KPÖ Plus; es gibt aber eine sehr wahrnehmbare Rechtsextreme: die FPÖ. In Deutschland ist das etwas anders: die extreme Rechte ist als AfD etwas schwächer als die FPÖ; dafür gibt es auch eine wahrnehmbare Linke. Beide Seiten wollen keine Aufrüstung Europas. Was AfD und FPÖ statt dessen wollen, weiß ich nicht genau: ich vermute „regionale Macht“ und über diese die Abschiebung („Remigration“) von allem, was – völlig verrückt! – als „fremd“ gedeutet wird. Die Linke will keine Militarisierung Europas, weil das teuer wird und das dafür notwendige Geld im Bildungssystem, im Gesundheitssystem, im Sozialsystem und im Klimaschutz zwangsläufig fehlen wird. (Klimaschutz ist auch Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik, aber halt für die nächsten Generationen.)
„Es wird teuer“
Dass die Militarisierung Europas teuer wird, ist klar; das kündigt auch Claude Malhuret an:
Es wird teuer. Das Tabu rund um die Verwendung eingefrorener russischer Vermögenswerte muss gebrochen werden. Es wird notwendig sein, Moskaus Komplizen in Europa selbst durch eine Koalition ausschließlich williger Länder zu umgehen, zu denen natürlich auch Großbritannien gehört.
Und:
Es handelt sich um eine Herkulesaufgabe, doch an ihrem Erfolg oder Misserfolg wird die Geschichtsschreibung die Führungspersönlichkeiten des heutigen demokratischen Europas beurteilen.
Friedrich Merz hat gerade erklärt, Europa brauche ein eigenes Militärbündnis. Damit wird anerkannt, dass Frankreich mit seinem Argument für strategische Autonomie seit Jahrzehnten Recht hat.
Es muss noch gebaut werden. Es wird notwendig sein, massiv zu investieren, den Europäischen Verteidigungsfonds über die Schuldenkriterien von Maastricht hinaus zu stärken, Waffen- und Munitionssysteme zu harmonisieren, den Beitritt der Ukraine – die heute über die führende europäische Armee verfügt – zur Union zu beschleunigen, den Stellenwert und die Bedingungen einer nuklearen Abschreckung auf der Grundlage französischer und britischer Fähigkeiten zu überdenken und die Programme für den Raketenabwehrschild und die Satelliten wiederaufzunehmen.
Malhuret sieht auch globale Chancen. Russland sei derzeit schwach:
Entgegen der Propaganda des Kremls geht es Russland schlecht. In drei Jahren hat es die sogenannte zweitgrößte Armee der Welt geschafft, in einem Land, dessen Bevölkerung dreimal kleiner ist, nur ein paar Brosamen zu erbeuten.
Ein Zinssatz von 25 %, der Zusammenbruch der Devisen- und Goldreserven sowie der demografische Kollaps zeigen, dass es am Rande des Abgrunds steht. Die amerikanische Unterstützung für Putin ist der größte strategische Fehler, der jemals in einem Krieg gemacht wurde.
Ein derart schwaches Russland wäre ein Papiertiger, den man nicht sehr fürchten müsste. Aber Trump 2.0 bläst diesen Papiertiger auf und macht ihn stark …
… der größte strategische Fehler, der jemals in einem Krieg gemacht wurde.
Wir werden uns entscheiden müssen
wir = wir Europäer*innen. entscheiden = wie viel Bildungs-, Gesundheits-, Sozialpolitik und Klimaschutz wollen wir neben einer Aufrüstung Europas bewahren? Wie viel Aufrüstung lassen wir zu? Wie viel (oder welche Art von) Neutralität erhalten wir uns (in Österreich)? Wie sehr ist eine Aufrüstung mit dem Klimawandel überhaupt verträglich? (Militär erzeugt Treibhausgase.)
Das sind „herkulische“ Entscheidungen in einer „herkulischen“ Situation, das sagt auch Claude Malhuret. Als Herkules den Stall des Augias ausmisten musste, in dem für jede Gabel Mist, die entfernt wurde, Scheiße im Ausmaß von zwei Gabeln dazu kam, leitete er den Fluss Alpheios durch den Stall durch und entfernte so den gesamten Mist auf einmal. (Die Lösung war schon mythologisch umstritten!)
Ich weiß nicht, inwiefern wir aus dieser mythologischen Lösung heute etwas lernen können. Vielleicht, dass es Situationen gibt, in denen eine konventionelle Lösung nicht möglich ist.