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„Probiers mal mit Gemütlichkeit“

Vorgestern habe ich unter Begleitung eines 6-jährigen Leihenkels im Rumer Sommerkino den Animationsfilm „Das Dschungelbuch“ gesehen. Den neuen, den computeranimierten aus 2016 von Jon Favreau. Am Tag darauf hab ich mir und meinem Leihenkel noch die Zeichentrickversion von 1967 zugemutet – in der Hoffnung, dass der Leihenkel das mitmacht. Zuerst wollte er natürlich den Film vom Vorabend, er hat sich dann aber sehr schnell durch die Zeichentrickversion verzaubern lassen. Es hat funktioniert: die alte Fassung ist immer noch zugkräftig. Sie ist meines Erachtens sowieso das Beste, das von Disney je produziert wurde.

Und mir sind dabei ein paar Dinge aufgefallen.

1. Die Unterschiede

Auffallendster Unterschied ist die Filmtechnik. Was 1967 noch gezeichnet wurde, ist 2016 computeranimiert und fast schon hyperrealistisch – wenn man von scheinbar schwerkraftlos schwebenden Figuren u. dgl. absieht. Der Zeichentrick von 1967 ist immer als Märchen greifbar; die Animation von 2016 spielt Realität vor. Die Version von 1967 ist durch ihre Distanz zur Realität immer ironisch und oft unendlich komisch; die Version von 2016 ist manchmal komisch, aber in ihrer Realitätsnähe oft auch düster und bedrohlich.

Auch inhaltlich gibt es Unterschiede. Der wichtigeste kommt am Ende. 1967 kehrt Mowgli zu den Menschen zurück, nachdem ihn Bagheera und Baloo bis zum Menschendorf begleitet haben. Ausschlaggebend sind 1967 aber nicht die Ratschläge der beiden Elternfiguren Baloo und Bagheera, sondern der Augenaufschlag des Mädchens, das am Fluss mit einem Krug Wasser holen soll. Der ewig-weiblichen Verführung nach Disney-Art ist der Mowgli von 1967 nicht gewachsen.

2016 ist das Mädchen gestrichen und Mowgli bleibt im Dschungel. Das Asylverfahren des unbegleiteren Minderjährigen wird sozusagen positiv mit einer Einbürgerung abgeschlossen.

Ein paar andere Unterschiede betreffen z.B. die Rolle des Tigers Shere Khan, der 1967 noch ein beinahe gemütlicher Gangster war, der erst spät im Film sichtbar auftaucht und der 2016 zum zu jeder Zeit wirklich Bösen, zum gefürchteten Gewalttäter und Mörder mutiert. Kaa, die Schlange, hat das Geschlecht gewechselt: 1967 hatte sie männliche Synchronstimmen, 2016 weibliche (im Original die von Scarlett Johansson). Und die Hippies von 1967, die Geier, sind auch gestrichen worden. Immerhin haben sie Mowgli einmal in schwerer Stunde getröstet und einmal das Leben gerettet. 2016 gibt es keine Hippies mehr. Schade, sie haben mir gefehlt.

2. Die Gleichheiten

Die Geschichte selbst hat sich wenig geändert. Letztlich ist es die story eines menschlichen Findelkinds, eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, wie man das heute nennen kann. Die wilden Tiere des Dschungels gewähren ihm Asyl, sowohl 1967 als auch 2016, obwohl es einen, den Tiger, den Bösen gibt, der da etwas dagegen hat. 2016 endet das „Asylverfahren“ mit einer endgültigen Gewährung der Dschungel-Bürgerrechte. 1967 war die Lösung eine Art Repatriierung.

Beide Versionen sind insgesamt weit von Rudyard Kiplings Buch entfernt und verzeichnen die Kipling’sche Vorlage wesentlich.

Was auch gleich geblieben ist: Frauen spielen nur untergeordente Rollen. 1967 gibt es die Wolfsmutter Raksha, die Elefantenmutter Winifred, die einmal kurz gegen ihren Ehemann Col. Hathy aufmuckt, und das Mädchen am Fluss. 2016 bleiben nur mehr die beiden Mütter übrig.

3. Überhaupt Flucht

Flüchten, verloren gehen, vertrieben werden ist ja überhaupt in allen Geschichten, die die Menschheit notiert hat, ein wesentliches Element. Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben, die Israeliten flüchten aus Ägypten, Maria und Josef nach Bethlehem und dann nach Ägypten, Mohammed von Mekka nach Medina (oder wars umgekehrt?). Herzeloyde flüchtet mit Parzival in den Wald, Parzival verlässt Herzeloyde und flüchtet aus dem Wald. 1942 flüchten Menschen aus Wien und anderen Orten nach Casablanca, 1956 aus Ungarn nach Wien, 1968 aus der Tschechoslowakei nach Österreich und 1992-1995 aus Bosnien. Um 2015 fliehen Millionen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Europa. Und immer schon flüchtet die Menschheit aus Afrika.

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Fluchten. Die Geschichte der Menschlichkeit ist eine Geschichte der Flüchtlinge.

4. „Gemütlichkeit“ vs. necessities

Was in der Fassung von 2016 jedenfalls auch in der deutschen Version geblieben ist: die große Arie des Baloo auf die Gemütlichkeit:

Probier’s mal mit Gemütlichkeit,
mit Ruhe und Gemütlichkeit
jagst du den Alltag und die Sorgen weg.
Und wenn du stets gemütlich bist
und etwas appetitlich ist,
dann nimm es dir egal von welchem Fleck.

Was soll ich woanders, wo’s mir nicht gefällt?
Ich gehe nicht fort hier, auch nicht für Geld.
Die Bienen summen in der Luft,
erfüllen sie mit Honigduft,
und schaust du unter den Stein,
erblickst du Ameisen, die hier gut gedeih’n.
Probier mal zwei, drei, vier.

Denn mit Gemütlichkeit kommt auch das Glück zu dir!
Es kommt zu dir!

[…]

(nach http://www.songtexte.com/songtext/sherman-brothers/probiers-mal-mit-gemutlichkeit-53d98fcd.html)

Ohne diese Arie, deren Formulierungen bereits in einem kollektiven Unterbewussten gelandet sind, geht es offenbar nicht.

1967 will Baloo das Problem des Flüchtlingskinds mit Gemütlichkeit lösen. Das wäre vielleicht keine schlechte Idee für heute. Obwohl die Idee natürlich auf einem gigantischen Missverständnis und auf einer grandios-schlechten Übersetzung beruht. Denn die Arie des Baloo hat im englischen Original (vermutlich auch 2016) zunächst nichts (!) mit Gemütlichkeit zu tun. Sondern mit den wirklich notwendigen, den essenziell wichtigen Dingen des Lebens, den „bloßen Notwendigkeiten“, den „bare necessities“:

Look for the bare necessities
The simple bare necessities
Forget about your worries and your strife
I mean the bare necessities
Old Mother Nature’s recipes
That brings the bare necessities of life

Wherever I wander, wherever I roam
I couldn’t be fonder of my big home
The bees are buzzin‘ in the tree
To make some honey just for me
When you look under the rocks and plants
And take a glance at the fancy ants
Then maybe try a few

The bare necessities of life will come to you
They’ll come to you!

[…]

(nach: http://www.songtexte.com/songtext/terry-gilkyson/the-bare-necessities-63fc5283.html)

Vielleicht ist ja die Übersetzung gar nicht so grandios schlecht. Im englischen Original geht es um Verzicht auf Überflüssiges, um die Konzentration auf das Wesentliche. Das hat vielleicht mit „Gemütlichkeit“ letztlich ein bisschen zu tun; mag sein. Doch letztlich ist der englische Originaltext sowieso unübersetzbar. Die „lyrics“ sprechen zwar von „bare necessities“, hören kann man aber genau so gut „bear necessities“ – also das, was für einen Bären wichtig und nötig ist. Und solche doppelsinnigen Wortspiele sind nicht übersetzbar.

Vielleicht können wir das ewige Flüchtlingsproblem auch heute mit etwas mehr Gemütlichkeit und weniger Stress angehen – auch für die Flüchtlinge. (1956 und 1968 waren wir als Staat da besser.) Vielleicht konzentrieren wir uns auf das, was wirklich notwendig, die Not wendend ist, und vielleicht sehen wir, dass not-wendig für jeden Menschen etwas anderes ist, je nach Not, in der er steckt. Vielleicht ist die Filmfassung von 2016 bei aller Sympathie für die von 1967 letztlich die zeitgemäßere und radikalere: die mit dem Asyl, mit dem Verzicht  auf Repatriierung.

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