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van der Bellen in Bregenz

Heute hat Bundespäsident Alexander van der Bellen die Bregenzer Festspiele eröffnet – wie erwartbar mit einer Rede sozusagen zur Lage der Nation. Ich drucke sie im Anschluss hier ab; die Zeitmarken in eckigen Klammern beziehen sich auf den vom ORF gesendeten Video-File der Rede.

(Achtung: auch oe24.at druckt die Rede ab; sie ist aber dort nicht sorgfältig transkribiert, sondern enthält dort einige Fehler. Vermutlich ist sie bei oe24 gar nicht transkribiert, sondern von einer Vorlage abgekupfert. Kein Qualitätsjournalismus!)

Die Rede ist sehr gut, sie ist lesenswert; es handelt sich um bewährte Qualität aus dem Hause van der Bellen. Sie enthält allerdings m.E. (mindestens) einen politischen Fehler. Alexander van der Bellen beschränkt sich auf die gerade besonders aktuellen Krisen: die Pandemie, den Ukraine-Krieg, den „Energienotstand“. Die grundlegene Klimakrise umschifft er; und schon gar nicht spricht er von der fundamentalen Krise des globalen Kapitalismus, die dem allen zugrundeliegt. (Der andere Fehler liegt m.E. in der zu psychologisierenden „Ursachen“-Forschung beim Ukrainekrieg. Aber da kann man drüber streiten.)

Die Rede im Wortlaut:

[0:09] Lieber Kollege Cassis, sehr verehrte Frau Cassis, meine Damen und Herren, das wird jetzt vielleicht ein wenig ungewohnt für eine Festspieleröffnungsrede, aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich diese Gelegenheit nutze.

[0:30] Meine Damen und Herren, wir alle sind froh und glücklich, heute hier in Bregenz sein zu dürfen. Gemeinsam Kunst zu genießen, das tut gut, gerade nach dieser langen Zeit der Entbehrungen. Aber haben wir diese wirklich hinter uns? Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass man Dinge nicht schlechtreden sollte, aber wir dürfen uns auch nichts vormachen. Und sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn wir uns nicht in die eigene Tasche lügen wollen, dann müssen wir etwas zur Kenntnis nehmen, [1:04] nämlich, wenn dieser Abend heute vorbei ist, wenn diese Festspiele vorbei sind, wenn der Sommer vorbei ist und spätestens, wenn der Winter kommt, laufen wir in ein massives Energieproblem, wenn wir jetzt nicht dementsprechend vorbereitend handeln. [1:24]

Wir sehen jetzt schon ein dramatisches Ansteigen der Preise für viele Produkte des täglichen Bedarfs. Hunderttausende von Menschen in unserem Land haben Angst und sind am Rande der Verzweiflung. Das sind alleinstehende Mütter, alleinerziehende Mütter, Mindestpensionisten, aber auch Menschen, die bislang keinen – keine gröberen Geldsorgen hatten. Wir leben in einer Zeit, wo die Grundelemente unseres Lebens angegriffen werden, der Friede in Europa [2:00], unsere Demokratie, die Art, wie wir leben wollen, unsere Versorgungssicherheit, unsere Sicherheit insgesamt.

Und warum ist plötzlich alles unsicher, was über Jahrzehnte so sicher schien?

Weil nicht so weit von hier, in Moskau, ein Diktator herrscht, der es nicht ertragen kann, dass Menschen in Europa in individueller Freiheit und Unabhängigkeit leben wollen. Ein Diktator, der vom verweichlichten, dekadenten Westen redet, [2:38] der unsere Leb – Art zu leben zutiefst verachtet. Weil er nicht erträgt, dass wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der jeder Mensch gleich viel wert ist, und weil er von einer Wiedergeburt eines russischen Imperiums träumt. Das ist, fürchte ich, die Wahrheit und der Kern der Sache. [3:03] Weil Putin das nicht erträgt, hat er einen Krieg begonnen, er lässt Bomben auf Städte und Dörfer werfen, treibt Millionen Menschen in die Flucht, Zehntausende haben bereits ihr Leben verloren – auf der ukrainischen wie auf der russischen Seite. Und während wir heute die Festspiele eröffnen [3:25], harren Familien in ukrainischen Städten in Kellern und Luftschutzbunkern aus. Und weil das alles aus Sicht des russischen Präsidenten nicht genug ist, drosselt er die Gasversorgung in Europa, und machen wir uns nichts vor – er wird sie ganz abdrehen, wann immer es ihm gefällt.

Diese Abhängigkeit ist unerträglich, aber es ist auch unerträglich, auch nur mit dem Gedanken zu spielen, sich zum unterwürfigen Verbündeten eines Diktators zu machen. [4:00, Applaus]

Zu all dem Unrecht zu schweigen: wir sind nicht Putins Vasallen.

Und ja: vergangene Regierungen in halb Europa haben die Gefahr dieser Abhängigkeit nicht gesehen, ignoriert, ja: Politik und Wirtschaft haben hier Fehler gemacht, und ja, ich selbst habe mich auch täuschen lassen, ich hatte Putin anders eingeschätzt. [4:40]

Meine Damen und Herren, was heißt das nun für uns? Zum einen, dass wir beim Namen nennen müssen, wozu, warum und wo-rum in der Ukraine gekämpft, gemordet und gestorben wird. Nicht nur für die Unabhängigkeit der Ukraine. Um unser aller Lebensmodell, um politische Freiheit, persönliche Freiheit, den Rechtsstaat, Menschenrechte [5:08] und Demokratie. Und zum andern, dass diese Energiekrise ein bewusst herbeigeführter kriegerischer Akt ist, dass die Inflation, die daraus entsteht, ein bewusst herbeigeführter kriegerischer Akt ist, dass viele Menschen in Österreich, in unserem wunderschönen Österreich schwer leiden, in akuter Armutsgefahr sind, und dass dies eine Folge dieses bewusst herbeigeführten kriegerischen Akts ist, [5:38] und dass wir nicht zurückkönnen in die Zeit davor, nichts mehr wird so sein wie früher, Friede und Wohlstand sind nicht mehr selbstverständlich in Europa. [5:53]

Das sind Tatsachen, und sie müssen wir als ersten Schritt anerkennen, damit wir uns befreien können, erst dann können wir uns nach vorne entwickeln und gestaltend, mutig, zuversichtlich [6:05] in die Zukunft gehen. Dann haben wir eine Chance, die neuen Zeiten, in die wir fraglos schreiten, auch zu guten Zeiten zu gestalten. Und damit wir das tun können, müssen wir vereint sein. Wir dürfen uns nicht spalten lassen, weder in Österreich noch in der Europäischen Union [6:25], denn auch das gehört zu Putins Plan, dass wir uns gegen einander [6:29] ausspielen, gegen einander aufhetzen lassen. Gelegenheit dazu gab und gibt es genug: die Pandemie, ihre Folgen und der Umgang damit, die Inflation, ihre Folgen und der Umgang damit, die Energieknappheit, ihre Folgen und der Umgang damit: wir sind alle gefordert. [6:51]

Aber die in unserm Land, die nicht so massiv unter den Folgen der Inflation leiden, die sind jetzt mehr gefordert. [7:00] Wir müssen denen helfen, die es eben schwieriger haben, die vielleicht am Monats – am Ende des Monats, nicht mehr wissen, wie sie heizen oder was sie essen sollen. Ein Österreich, in dem Familien, Pensionisten, arme Menschen im Winter frieren müssen, weil sie sich die Energie nicht mehr leisten können: das ist nicht das Land, in dem wir leben möchten. Da bin ich mir ganz sicher. [7:26]

Find ich es gut, dass wir deswegen wieder Wärmekraftwerke mit fossilen Brennstoffen in Betrieb nehmen? Natürlich nicht. Aber im Augenblick ist es die bestmögliche Option. Find ich es gut, wenn Regierende auf allen Ebenen, die uns durch diese Situation leiten sollen, auch viel mit sich selbst beschäftigt sind und abgelenkt sind? Natürlich nicht. Sie glauben nicht, oder wahrscheinlich, vielleicht glauben Sie’s eh, wie viele Menschen von mir verlangen [8:04], in irgendeiner Form einzugreifen in die Regierung, und es gibt einige, die sich Neuwahlen wünschen in dieser Situation [8:11, Appl.], aber ich sage ihnen klar und deutlich, dass ich meine Verantwortung darin sehe, gerade in dieser Zeit die größtmögliche Stabilität zu garantieren [8:24, Applaus, Edtstadler, Brunner].

Und dafür zu sorgen, dass wir Wochen und Monate völliger Unmanövrierbarkeit vermeiden. Und ich bin deswegen zum Schluss gekommen, dass die Regierung jetzt das tun soll und muss, und zwar ohne Verzögerung, wofür sie gewählt wurde: sorry – arbeiten, arbeiten – aber darüber rasch und verständlich kommunizieren. [8:57, Kocher]

Meine Damen und Herren, die Lösung der anstehenden Probleme stellt eine gesamtstaatliche Aufgabe dar. Und die Lösung eben jener Probleme erfordert gesamtstaatliche, gemeinsame, europäische Anstrengungen. Ich verwende den Ausdruck „gesamtstaatlich“ nicht von ungefähr; ich verwende ihn mit Absicht. [9:22] Strom- und Gasmärkte in Österreich und in der Union sind sehr komplex. Bund, Länder und Gemeinden sind gefordert und müssen mit Unternehmen kooperieren, die in der Regel dem Aktienrecht unterliegen. Das ist sehr kompliziert. Und zusätzlich sind transnationale Verträge auf verschiedensten Gebieten im Strom- und Gassektor zu beachten. [9:48] Das ist alles nicht einfach, da sind erhebliche Anstrengungen notwendig, und die müssen auch entsprechend kommuniziert werden. Die Dringlichkeit gebietet rasches, geschlossenes und entschlossenes Handeln und vor allem Solidarität. [10:05] Das Zusammenhalten in unserer Gesellschaft – Staatssekretärin Andrea Mayer hat das schon gebührend erwähnt [10:10] und ich danke ihr dafür – dieses Eintreten für einander, die Verbundenheit und die Bereitschaft, die gemeinsamen Werte und Ziele auch in dieser schwierigen Zeit, in diesen schwierigen Stunden zu vertreten: darum geht es. [10:24]

Meine Damen und Herren, ich habe einmal gesagt und manche von Ihnen werden sich noch erinnern: „so sind wir nicht“. Aber es ist nicht ganz vollständig, ich habe damals noch etwas zweites angehängt und das wird nicht so oft zitiert [10:43], der ganze Satz lautet: „so sind wir nicht, so ist Österreich einfach nicht“. Aber jetzt müssen wir das alle gemeinsam beweisen. Dem ersten Schritt muss der zweite folgen. [11:00]

Den Vorwürfen der Korruption muss natürlich die umfassende Aufarbeitung und Aufklärung dieser Vorwürfe folgen. Dem Einschalten der Wärmekraftwerke muss der massive Ausbau der nicht-fossilen Energiegewinnung folgen, rasch. Und der Abfederung der steigenden Preise muss eine gute und nachhaltige Absicherung für alle folgen. Aber wir werden all das, was jetzt passiert und passieren wird, bewältigen [11:30], wenn wir zusammenhalten. Wir müssen solidarisch sein. Und dann, wenn wir diese kommenden Herausforderungen bewältigt haben, und wir werden sie bewältigen, müssen wir neu aufbauen: neu, tragfähig und zukunftsträchtig.

Meine Damen und Herren! Und nun werden wir wieder in die einzigartige Zauberwelt der Bregenzer Festspiele eintauchen. Ich erkläre die Bregenzer Festspiele für eröffnet. [12:02]

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m.b.
m.b.
1 Jahr alt

gestern (26.7.) hat bundespräsident van der bellen die rede zur eröffnung der salzburger festspiele gehalten. es war eine ähnliche rede wie in bregenz; sie hat keine wesentlich anderen punkte eingebracht; ich verzichte deshalb auf die herstellung eines transkripts.
wieder geht der präsident auf die klimakrise nicht ein. ich find das seltsam, geradezu befremdlich. nur über den umweg der kosten für fossile energieträger wird das thema am rand gestreift. ich finde, da setzt der präsident falsche schwerpunkte.
m.

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