Veröffentlicht in Bildung

38 Jahre Mathe-Lehrer. Jetzt „in Pension“

Am 10.2. hab ich mich bei der Maturafeier als Mathelehrer in die Pension verabschiedet. Ich habe meine letzte „Klasse“ von der ersten in die achte zur Matura geführt. Als Direktor wird so etwas nie mehr möglich sein. (Gut, mein Administrator hat mir versprochen, mich ab und zu zum Supplieren einzusetzen.)

Als Deutschlehrer bin ich schon 2011 in Pension gegangen. Aber nicht mit einer Matura, nur mit einer sehr sehr reifen, lebendigen und gescheiten Oberstufenfünften. Da war aber nicht absehbar, dass das schon eine Art Pensionierung war.

1979

Ich war Mathelehrer im engeren Sinn seit 1979. An der Baufakultät der Uni Innsbruck habe ich eine Übungsgruppe für BauigenieurstudentInnen übernommen. Es war sehr nett, es war ungeheuer lehrreich – denn als Mathematikstudent hatte ich kaum gelernt, wozu das alles gut ist, was wir da lernen, und bei den Bauingenieuren sah ich, was die da brauchten – und ich habe da auch meine ersten Erfahrungen mit Unterrichtsevaluation gewonnen. Mein damaliger Chef war da nämlich einer der Pioniere in Innsbruck. Er war an der Baufakultät der einzige, der (damals schon!) seine Vorlesung evaluieren ließ (und dabei hervorragend, neiderregend abschnitt!) und auch seine Übungsgruppen dem Feedback unterzog – manchmal zum Leidwesen seiner Assistenten, die keine so guten „Noten“ bekamen wie ihr Chef. Dass ich als jüngster der Assistenten noch die besten Feedbackwerte hatte – fast so gut wie die vom Chef – hat mir beim Chef einigen Respekt eingebracht. Es war aber keine Kunst. Ich hatte von allen Assistenten bei weitem den klarsten Begriff davon, was in den Übungen „schwer“ oder „leicht“ war. Für die arrivierten Kollegen war nämlich alles „leicht“; ich war meinen Bauingenieuren, die zum Teil älter waren als ich, oft nur eine Woche im Stoff voraus und wusste sehr genau, wo die Klippen und Knackpunkte waren. Ich kannte die Probleme meiner Studenten.

(Einen meiner größten Erfolge als Mathelehrer hatte ich freilich schon vor meiner Karriere. Im Sommer 1975 führte ich einen meiner Mitschüler zur Nachmatura. Er bestand nicht nur glorreich, sondern machte irgendwann im August auch den Versuch, die Hyperbel, die seine Schreibtischlampe an die Wand geworfen hatte, zu berechnen. Der Versuch scheiterte mangels eines Koordinatensystems, aber ich bin sicher, dass er die Hyperbel an der Wand zuvor schon 1000fach gesehen, aber noch nie erkannt hatte.
Heute ist er Arzt.)

1983

Die Übungen an der Baufakultät dauerten bis 1983. Ich wechselte ans Institut für Germanistik. Mathematik wurde dadurch nur mehr zum Hobby. Immerhin hatten die Germanisten nun jemand, der Prozentrechnen konnte. Diese Fähigkeit wurde durchaus bisweilen in Anspruch genommen. Und eine sprachwissenschaftliche Dissertation benötigte zwar keine Mathematik, aber doch ein bisschen Rechnen und Statistik. Auch im Dissertantenseminar meines neuen Chefs war mathematische Schärfe manchmal eine nützliche Hilfe, und am Institut für Allgemeine Sprachwissenschaft bekam ich einmal einen Lehrauftrag über Montague-Grammatik, der mich wirklich wieder zum Mathelehrer machte und bei dem ich den prominentesten aller meiner Hörer hatte, Dozent K. Es war eine sehr elitäre Veranstaltung; oft waren wir nur zu dritt. Aber „tres faciunt collegium“.

Ich übernahm zwischendurch einmal einen Mathe-Maturavorbereitungskurs an der Volkshochschule. Auch das war nett. Ich konzipierte den Kurs auf 2 mal 10 Doppelstunden für den gesamten Maturastoff und hielt ihn auch so. Es hat ganz gut funktioniert. Mit Prüfungserfolgen der TeilnehmerInnen und mit Wiederholung des Kurses.

1994

1994 wurde ich Lehrer am Abendgymnasium. Endlich wieder Mathe-Unterricht. Ich bekam eine überaus lebendige und geistreiche erste Klasse. Es war super: ich glaub, nicht nur für mich. Mit manchen habe ich immer noch Kontakt. Obwohl ich die Klasse nach dem ersten Semester abgeben musste – eine Art Dolchstoß von Direktor und Administrator. Aber ich bekam die Klasse wieder und durfte sie zur Matura führen. Eine sehr schöne Matura, z.B. von Bea: die Verbindung von Vektorrechnung mit Differenzialrechnung über den nicht-freien Fall. Bea war zwar krank, sie löste die Aufgaben aber trotzdem „Sehr gut“.

„Nachhilfe“

Seit 1997 immer wieder Nachhilfelehrer. Allerdings nur im Freundeskreis und nie gegen Geld. Aber die betroffenen Kinder mussten es selbst wollen; der Wunsch der Eltern war nicht ausreichend; das war meine Bedingung. Im näheren Freundeskreis gab es 10-12 Kinder. Alle sind sie immer wieder zu mir gekommen. Der älteste ist jetzt erfolgreicher Manager, die jüngste hat letzthin am Abendgymnasium maturiert. Sie haben mich lange jung gehalten. Vielen Dank!

Eine eindrucksvolle „Nachhilfestunde“ war eine mit dem 17jährigen Gabriel. Er hatte Schularbeit, an der HAk in Innsbruck. Zur Nachhilfe kam er lediglich mit Fragen, „ob das eh so geht“ wie er sich gedacht habe. Ich konnte nur bestätigen: alles, was er vorbrachte, stimmte. Er hatte voll und ganz kapiert. (Warum er überhaupt zu  mir gekommen war, ist mir auch heute nicht ganz klar; offenbar ging es darum, sich die nötige Sicherheit zu holen.) Er schrieb auch seinen Einser. Den einzigen; alle anderen Noten in der Klasse waren anscheinend 4er und 5er.

2000

Von 2000 bis 2004 war ich auch nicht mehr Mathelehrer im engeren Sinn. Sondern Geschäftsführer der Tiroler Grünen. Aber es hat den Tiroler Grünen nicht geschadet, dass der Geschäftsführer rechnen konnte. Ich habe sogar Formeln entwickelt, nach denen man die Wichtigkeit der politischen Arbeit in den Gemeinden (bzw. eher die Wichtigkeit einer Gemeinde für die politische Arbeit) bewerten, ja berechnen konnte. Wir haben sie sogar umgesetzt und es hat funktioniert. Nach meinen 4 Geschäftsführungsjahren waren die Tiroler Grünen schuldenfrei und mit 15,6% Rekordhalter unter den grünen Landesparteien, was das Landtagswahlergebnis betraf. Rechnen hilft.

2004

Von 2004 bis 2012 wieder Mathe- und Deutschlehrer, diesmal am BG Sillgasse. Eine Maturaklasse von der 1. bis in die 8., 7 Jahre davon auch als KV. Eine tolle Klasse; viele Erlebnisse verbinden mich mit ihr. Im Maturajahr 2012 war ich an sich schon am Abendgymnasium, aber ich wollte, wir wollten die 8 Jahre noch zu Ende führen.

Eine Schülerin, Johanna, mit Spezialgebiet „Kreis und Kugel“ zur Matura. In der Spezialgebietsausarbeitung prunkte sie mit doppelten Integralen. Ich traute mich, die Berechnung der Kugeloberfläche als doppeltes Integral über die Polarkoordinaten zu geben. Überaus beeindruckend. Ich habe sie danach gefragt, ob ihr wer bei der Ausarbeitung des Spezialgebiets geholfen habe. Ja, ihr Vater, gab sie zu. Was der beruflich mache, fragte ich. „Fliesenleger“, war die Antwort.

Oder das Spezialgebiet „Optimale Netzwerke“ von Paul. Er demonstrierte, wie ein optimales Straßennetz zu berechnen war. Klar, unter vereinfachten Randbedingungen, sonst hätte es eine Mathematura gesprengt. Überaus beeindruckend.

Mathematik vertiefend-ergänzend mit Informatik bei einigen aus der Klasse. Anspruchsvolle Mathematik mit Tabellenkalkulationen. Beschränktes und Logistisches Wachstum. Fibonacci-Zahlen und Goldener Schnitt am PC. Und so weiter. Überaus beeindruckend.

(Beinahe übersehen hätte ich da meine erste Maturaklasse in Mathe am BG Sillgasse, 2006. Ein fantastische Gruppe aus Rockmusikern (eigentlich Metal), Jungpolitikern (weit weit links) und einigen selbstbewussten jungen Frauen, die die laute Dominanz der Gruppenmänner offensichtlich gar nicht ungern erduldeten und für sich managten. Ich hatte sie nur 2 Jahre – 7. und 8. Klasse – und habe ihnen trotzdem noch einen kleinen Kulturschock versetzt, weil Mathematik plötzlich anscheinend „völlig anders als bisher“ war. Ich habe die rührende Rede, die sie mir bei der Maturafeier gehalten haben, in meinem Dokumentenordner.

2011

Ab 2011 noch einmal Abendgymasium. Administrator und nebenbei noch ein bisschen Mathelehrer. Wieder eine erste Klasse – aber „Klassen“ sind das ja keine mehr, höchstens Modulgruppen. Fernstudium. Und im nächsten Semester gleich noch so eine Gruppe. Eine Studierende ist mir davonmaturiert: Ich hatte sie in Mathe 2, 3, 4 und 6, Module 3 und 4 parallel im gleichen Semester. Mathe 1 nahm sie als Einstufungsprüfung mit, Mathe 5 als Modulprüfung. In Mathe 6 hatte ich sie noch einmal, Mathe 7 machte sie parallel dazu bei einem Kollegen. In ihrem 4. Semester an der Schule absolvierte sie das 8. Mathe-Modul und dann die Matura mit einem „Sehr gut“ schriftlich und mündlich. Die junge Dame war daneben berufstätig: Gymnasium für Berufstätige.

2016 ein Super-Maturaergebnis: 4 „Sehr gut“, 4 „Gut“, 4 „Befriedigend“, 1 „Genügend“, 0 „Nicht genügend“ schriftlich. Da war Stefan dabei, der 7 Semester allen meinen Vorschlägen, in Mathe ein Modul zu überspringen, hartnäckig widerstanden hatte. Da waren Sophie und Tamara dabei, eingestandene Fälle früherer Mathe-Phobie: die eine mit „Sehr gut“, die andere bloß (?) mit „Befriedigend“. Und einige andere mehr.

2017 eine Matura ohne „Sehr gut“. Ich hatte mich bei der Aufgabenstellung vertan. Ich gab eine Vektoraufgabe mit starken Argumentationsanteilen. Wir hatten das im Unterricht behandelt und ich hatte den Eindruck gehabt, ich hätte Verstehen erzeugt, aber es funktionierte leider nicht bei der schriftlichen. Schade.

Eine Kandidatin mit einem sozusagen katastrophalen 5er schriftlich. Und mit einer brillianten, souveränen mündlichen Zusatzprüfung, die als Gesamtnote noch ein „Befriedigend“ ergab und den „ausgezeichneten Erfolg“ rettete.

aus

Und jetzt aus. 1979 bis 2017. Mit kleinen Unterbrechungen.

Stärken und Schwächen

Ich glaub, ich war ein ganz guter Mathe-Lehrer. Es ist mir oft gelungen, den Stoff mit der Lebensrealität meiner SchülerInnen und meiner Studierenden zu verbinden und mathematisches Denken als einen lebendigen Diskussionsprozess zu gestalten. Es ist mir sehr gut und schnell gelungen, auch in Fehlansätzen in diesem Diskussionsprozess Produktives und Nützliches zu erkennen. Man konnte gut aus Fehlern lernen. Es ist mir sehr oft gelungen, das Vertrauen zu erzeugen, dass man „jede Frage stellen“ konnte.

Ich habe kaum je Mathematik „vorgetragen“, wenn, dann nur in kurzen Info-Blöcken. In meinen besten Mathe-Stunden ist es um alles gegangen, auch um Mathe.

Die größte Schwäche meines Unterrichts war vermutlich mein Tafelbild. Ich habe die Tafel als den die Diskussion begleitenden Notizzettel verwendet. Dementsprechend sah das auch aus. Richtige Ansätze neben falschen; alternative Rechenwege nebeneinander. Rechenwege, die scheinbar abbrachen und woanders weitergingen. Für Studierende, die zu spät kamen, war es vermutlich oft sehr schwierig, in die laufende Stunde hineinzufinden.

Ich hab das dann oft kompensiert durch „papers“: kurze Skriptenteile von 3, 4, 5 Seiten, die den Stoff wieder in eine lineare Ordnung brachten. Im Fernstudium habe ich diesen Stoff oft zum Einlesen vorgegeben, sodass man sich danach um Verständnis- und Rechenprobleme kümmern konnte.

Und die Mathematik? Und Mathematikunterricht?

Die Mathematik hat sich in dieser Zeit nicht sehr geändert. (Glaube ich; ich krieg leider wenig davon mit.) Der Mathematikunterricht hat sich sehr wohl geändert, die Mathematikprüfungen noch viel mehr. Ob die neuen Prüfungsformate wirklich besser sind, bezweifle ich. Okay: sie stellen sicher, dass ein Lehrer seinen Schülerinnen und Schülern nicht mehr sagen kann, auf welche Aufgaben sie sich vorbereiten müssen. Mathematikkenntnisse werden vergleichbar. Vergleichbarer. Aber ich hatte es nie nötig, meinen SchülerInnen die Aufgaben zu sagen.

Ich habe in meinen Deutschklassen Spitzenleistungen junger Menschen gesehen und gelesen. Aber mir kommt vor, ich hab in meinen Matheklassen noch mehr Spitzenleistungen junger Menschen erlebt. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich mehr Mathe- als Deutschklassen hatte. Jedenfalls: Spitzenleistungen junger Menschen sind cool.

Irgendwie schade, dass das alles als Direktor nicht mehr geht.

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