Veröffentlicht in Politik, fiction

Anna und Mansur. Oder: Die Reise in den Irak

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit „Anna“, einer jungen und gescheiten Frau befreundet; nein, keine „Beziehung“ im engeren Sinn. Anna hält viel von Ihren Meinungen, Sie ebenso viel von den ihren. Anna ist (mehr als) volljährig, sie hat ein abgeschlossenes Studium; Sie haben über die gegenseitige Wertschätzung hinaus keinen besonderen Einfluss auf Anna.

Nun hat Anna Ihnen mitgeteilt, dass sie die Absicht hat, in den Irak zu reisen. Sie möchte eine Woche im Nordirak (in Kurdistan) verbringen; sie ist dazu von Mansur, einem Mann, den sie „aus dem Internet“ kennt (d.h. aus Skype-Sitzungen über 2 Monate), eingeladen worden. Der Mann ist Wirtschaftsingenieur und hat in Großbritannien studiert.

Der Nordirak, Kurdistan gilt mittlerweile als „relativ sicher“. Natürlich bestehen explizite staatliche Warnungen vor Reisen dorthin. Was sollen Sie Anna sagen? Sie haben bereits spontan gefragt, was sie dort sucht. Sie hat etwas von „neue, ganz andere Erfahrungen sammeln“ gesagt.

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Variante 1: Sie sagen: „Ja, fahr. Du bist alt genug. Mach Deine Erfahrungen, Du hast die Möglichkeit dazu. Der Nordirak ist sicher; Du hast Dich in den gemeinsamen Internet-Treffen gründlich mit Mansur und seinen Lebensumständen auseinandergesetzt. Was soll schon passieren?“

Variante 2: Sie sagen: „Bist Du wahnsinnig? Aufgrund einer Internetbekanntschaft willst Du in ein hochgefährliches Land reisen, in dem gerade die politischen Verhältnisse wieder einmal kippen? Du kannst von Mansur gar nichts Genaues wissen, über Skype lässt sich alles faken. Was Du vorhast, ist lebensgefährlich: Entführung, Versklavung, Mord. Bleib da!“

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Was sagen Sie?

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Ich habe mich für Variante 3 entschieden. Ich habe die Bitte ausgesprochen, derzeit nicht in den Irak zu reisen. Sie könne von Mansur unmöglich genug wissen, über Skype sei überhaupt nichts sicher. Auch über die Umgebung Mansurs wisse sie letztlich nichts, und die sei auch von Mansur nicht völlig kontrollierbar. Und der derzeitige Rückzug des „Islamischen Staats“ lasse befürchten, dass die Kämpfer / die Terroristen den Krieg in einen Guerillakrieg kippen, der sich jederzeit in Anschlägen auch im sogenannten „sicheren“ Teil des Irak äußern könne.

Sie solle ihre Ausbildung (die sie gerade macht) abschließen und den Zeitraum benützen, Mansur wirklich kennen zu lernen. Sie solle ihn einladen, damit es zu Kontakten face to face komme. Dann solle sie entscheiden, ob sie auch hinfahren wolle oder nicht.

(Außerdem hab ich diesen Blog-Beitrag verfasst und veröffentlicht, nachdem „Anna“ einverstanden war.)

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Was immer Sie machen, ist falsch.

Variante 1 erzeugt ein Sicherheitsgefühl, das m.E. durch keine Realität gedeckt wird. Ja, Sie machen sich bei Anna beliebt, weil Sie ihre Pläne unterstützen. Aber was tun Sie, wenn Ihrer Freundin dort wirklich was Arges passiert? Dann können Sie sich „die Kugel geben“. Anna wird abreisen und Sie können nur hoffen, dass nix Schlimmes geschieht. Wenn Anna zurückkehrt: Schwein gehabt.

Durch Variante 2 erzeugen Sie ein Unsicherheitsgefühl, das möglicherweise unberechtigt ist. Die Variante hat die Gefahr, dass Anna nicht mehr zuhört, weil sie sich in ihrem Anliegen unverstanden fühlt. Anna wird höchstwahrscheinlich trotzdem reisen; wahrscheinlich passiert eh nix und nach ihrer Rückkehr stehen Sie als ängstlicher Spießer da. Und wenn sie nicht zurückkehrt? Dann hatten Sie zwar recht, aber Sie haben nichts davon und trotzdem verloren: nämlich Anna.

Variante 3: der diplomatische Versuch einer Verschiebung der Pläne nach zusätzlicher Absicherung. Erst recht „spießig“ und mitteleuropäisch-sicherheitsbewusst. Gar nicht cool stehen Sie da. Abreisen wird sie sowieso. Wenn ihr (a) was Schlimmes passiert, haben Sie Anna womöglich verloren. Wenn ihr (b) nix passiert, hatten Sie unrecht. Viel schlimmer ist (a), aber (b) ist auch blöd.

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Vielleicht muss wurscht sein, was als „cool“ gilt und wie man „dasteht“. Vielleicht ist es verdammt cool, etwas Uncooles zu tun, wenn es denn nötig ist.

*

Lösen wir das Ganze vom konkreten Fall. Unter welchen Bedingungen kann man eine freundliche Internet-Einladung in ein halbwegs beruhigtes Krisengebiet annehmen? Persönliche Bekanntschaft (nicht nur über Internet)? Nur innerhalb einer Reisegruppe? Möglichkeit von sprachlicher Verständigung als Voraussetzung? Gar nicht? Von welchen Faktoren hängt das ab?

Oder gilt „z’Tod g’fürcht is a g’sturb’m“?

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michael bürkle
michael bürkle
6 Jahre alt

so.
heut (31.8.) ist „Anna“ abgereist. sie hat mir zuvor noch fotos von „Mansur“ und seiner family gezeigt, die mich die gefahrenebene 1 („Mansur“ ist fake) als sehr gering erscheinen lassen. entführung / erpressung und terroranschläge kanns im irak aber trotzdem geben. anna weiß bescheid; sie wird vorsichtig sein. am 6.9. erwarten wir sie zurück.
hoffen wir das beste.
m.b.

michael bürkle
michael bürkle
6 Jahre alt

alles gut! „Anna“ ist heute (6.9.) wieder da, sie ist wohlauf.