Veröffentlicht in Bildung

Begabtenförderung am BG/BRG für Berufstätige

Das Gymnasium für Berufstätige ist an sich eine Schule der zweiten Chance. Zu uns kommen Menschen, die mitten im Berufsleben stehen und eine Reifeprüfung nachholen wollen. Zu uns kommen auch Menschen, die gerade ein Gymnasium, eine HTL oder eine HAk abgebrochen haben, einigen Schulfrust mitbringen und … ebenfalls eine zweite Chance brauchen. Zu uns kommen viele Menschen, die eine zweite Chance brauchen, weil sie noch zu wenig Deutsch beherrschen, um überhaupt eine erste Chance wahrnehmen zu können.

Es kann viele Gründe geben, eine zweite Chance zu brauchen. Eine zweite Chance zu brauchen ist jedenfalls kein Zeichen eines Begabungsmangels. Wir tun als Schule sicher sehr viel, um Defizite, die sich hier oder dort ergeben haben (Sprachdefizite, Motivations­defizite, frühere oder bestehende Zeitdefizite) auszugleichen. Wir kümmern uns aber nicht nur um Defizite; wir kümmern uns auch um Hochbegabungen. Ich versammle hier entsprechende „Fallstudien“ für Begabtenförderung am Abendgymnasium.

(In der Folge nehme ich oft auf Schulnoten Bezug. Ich bin weit davon entfernt, Schulnoten für objektiv, valide oder reliabel zu halten, ich verwende sie hier nur als die oft einzig greifbaren Indizien für Erfolge bzw. Problemlagen.)

1. Der Fall A

Frau A kommt zu uns mit einer schwierigen Vorgeschichte. Sie hat zwei Gymnasien abgebrochen; sie leidet an Anorexie und depressiven Attacken. Die Noten, die sie mitbringt, sind mittelprächtig; nicht schlecht, aber auch nicht berauschend. Ihre Motivation für Schule hält sich zunächst in engen Grenzen.

Frau A bekommt zahlreiche Module angerechnet und steigt in ein „Quereinsteigersemester“ ein. Sie entwickelt bei uns schnell ein gutes Grundgefühl für Schule; sie fühlt sich von ihren LehrerInnen ernst genommen; das ist neu für sie. Noch in ihrem ersten Semester bei uns legt sie bereits eine vorgezogene Teilreifeprüfung aus Physik ab; in ihrem zweiten Semester folgt die vorgezogene Teilreifeprüfung aus Philosophie, beide mit Note 1. Zu ihrem Haupttermin, am Ende ihres dritten Semesters bei uns legt sie die schriftlichen Reifeprüfungen aus Deutsch, Englisch und Mathematik und noch die beiden fehlenden mündlichen Reifeprüfungen aus D und E ab. Diese mündlichen Reifeprüfungen sind Auftritte eigener Art. Frau A ist Hauptdarstellerin und führt Regie gleichzeitig; sie nimmt Zwischen­fragen der Prüferinnen auf und verschiebt die Antwort auf später, weil sie zunächst noch andere Aspekte der Frage behandeln will, kommt dann aber auch auf die Zwischenfragen zurück. Es entwickeln sich Prüfungsgespräche, die man mehr oder minder ungekürzt als Interviews im Bildungsfernsehen senden könnte.

Das Maturazeugnis sieht dementsprechend aus: Notenschnitt bei den Maturanoten ist 1,0; auch die Abschlussnoten aller anderen Fächer sind „Sehr gut“ – mit einem „Gut“ als Ausnahme in GWK.

2. Der Fall B

Herr B ist in der Zentraltürkei geboren und aufgewachsen. Als ich ihn kennenlerne, ist er im Studium an sich bereits relativ weit; nur in Latein steckt er weit hinten. Sein Notenauszug ist insgesamt von vielen 4ern gekennzeichnet; in Latein ist erst das erste von 5 Modulen absolviert, in den Modulen L2 und L3 liegen bereits jeweils 3 Fehlversuche vor, sodass der Abschluss des Studiums bereits in Gefahr scheint.

Herr B findet sich aber in der Sprache Deutsch (für ihn seine erste Fremdsprache), in Englisch (seiner 2. Fremdsprache) und auch in Latein (seiner 3. Fremdsprache) mit der Zeit aber besser zurecht. L2 und L3 werden in der jeweils letztmöglichen Prüfung mit 3 bestanden, ebenso die finalen Module D8 und E8. Herr B maturiert in Deutsch und Englisch jeweils vorgezogen mit Gesamtnote „Gut“.

Für seine letzten beiden Semester bei uns bleiben ihm noch die Module M7 und M8 in Mathematik sowie die Fächer Ökonomie und Informatik. In Mathematik entwickelt sich Herr B zur tragenden Säule des Unterrichts: er stellt diffizile Fragen zu mathematischen Problemen sowohl im Unterricht als auch online in der Lernplattform. Aus bisherigen 3ern und 4ern werden in M7 und M8 plötzlich 1er. Im Juni 2013 besteht Herr B die schriftliche Reifeprüfung in Mathematik und die mündliche in Ökonomie jeweils mit „Sehr gut“; er bekommt aber noch kein Maturazeugnis, weil zu diesem Zeitpunkt noch sein letztes Latein-Modul läuft. Dieses schließt er im Juli mit Note 2 ab und er tritt mit einer letzten mündlichen Reifeprüfung aus Geschichte im Oktober zum Haupttermin an. Er besteht auch diese Prüfung mit „Sehr gut“ – und 3 „Sehr gut“ und 2 „Gut“ im Maturazeugnis bedeuten einen „ausgezeichneten Erfolg“ … einer von insgesamt 2 ausgezeichneten Erfolgen in den Herbstterminen der letzten Jahre, an denen sonst oft Wiederholungsprüfungen zur Reifeprüfung stattfinden.

3. Der Fall C

Frau C hat als Muttersprache Englisch, außerdem spricht sie sehr gut Französisch. Sie ist schauspielerisch begabt, sie ist literarisch interessiert. Sie hat in Englisch bereits mit „Sehr gut“ maturiert, ebenso in Deutsch, sie ist allerdings in Mathematik und in Naturwissenschaften etwas „hinten“. Die Gründe mögen vielfältig sein: Begabungsmangel ist es nicht.

Frau C belegt in einem Semester die Module Chemie 1 und 2, Mathematik 6 und Französisch 6. Ch1 gehört in den Plan des 4. Semesters. Ch2 ist an sich im 5. Semester, M6 im 6. und F6 im 7. Semester. Frau C bürdet sich damit ein mit 13 Wochenstunden quantitativ nicht besonders großes, qualitativ aber „sattes“ Programm auf. Sie will in einem Semester die gesamte Chemie nachholen, sie will den für viele „größten Brocken“ (die gesamte Differenzial- und Integralrechnung) hinter sich bringen und in Französisch einen großen Schritt bis knapp vor die Reifeprüfung tun.

Was zunächst wie ein völlig verrückter Plan aussieht, der 4 Module aus 4 verschiedenen Semestern miteinander kombiniert, geht auf: als Noten kommen 1 (F6), 2 (Ch2), 3 (M6) und 4 (Ch1) zustande. Frau C hat ihre literarische Begabung genützt … und ein Semester in den literarischen Fächern pausiert, um entstandene Lücken zu stopfen.

4. Der Fall D

Frau D kommt auch aus dem Ausland zu uns. Sie bekommt einige Module angerechnet: D1-2, E1-4, F1-3 und auch sonst noch ein bisschen was. Nur in Mathematik ist keinerlei Basis für eine Einrechnung zu finden. Also muss Frau D in Mathe „ganz unten“ anfangen.

Naja: „ganz unten“ fängt sie nicht an. Sie traut sich zu, in ihrem ersten Semester bei uns ins 2. Semester Fernstudium einzusteigen. (Das ist legal, aber riskant. M2 hat keine formellen Voraussetzungen, wohl aber inhaltliche, nämlich M1.) M1 erledigt Frau D „en passant“ im Laufe ihres ersten Semesters bei uns als Einstufungsprüfung (Note 2). Das Modul M2 schließt sie mit 1 ab. In ihrem zweiten Semester bei uns belegt sie die Module M3 und M4 – auch riskant, aber legal, denn die Voraussetzungen (M1 und M2) hat sie ja jetzt. Auch das geht gut: Note 1 in M3, Note 2 in M4.

Am Ende ihres zweiten Semesters bei uns kommt Frau D auf die Idee, M5 (die gesamte Vektorrechnung) per Prüfung abzulegen. Sie beantragt eine „Modulprüfung“ über M5, weil ihr Lehrer aus M3 und M4 sie dazu ermuntert und das befürwortet. Der Prüfer über M5 gilt als anspruchsvoll: Frau D lernt den Stoff über den Sommer selbst und legt die Prüfung im September erfolgreich ab: Note … 1! Also belegt sie in ihrem dritten Semester die Module M6 und M7 … und schließt beide Module mit Note 2 ab. Am Ende ihres vierten Semesters bei uns tritt sie nach Absolvierung von 8 Modulen (Modul 8 ebenfalls mit Note 2) zur vorgezogenen Reifeprüfung in Mathematik an (schriftlich: Note 1). Sie hat in diesen vier Semestern 3 durchaus verschiedene Prüfer „verbraucht“ (Prof. X für die Module 2, 3, 4 und 6; Prof. Y für die Module 1, 7 und 8 und Prof. Z für das Modul 5) – der Erfolg hängt also nicht an einem Lehrer.

Wer „macht“ hier Begabtenförderung?

Eigentlich ist es zunächst „das System“, das hier individuelle Bildungslaufbahnen zulässt und fördert. Wir haben keine speziellen Kurse für Hochbegabte, aber wir ermöglichen individuelle Planungen und damit individuelle Geschwindigkeiten. Auch Höchstgeschwindigkeiten – wie 8 Module Mathematik in 4 Semestern, fast „schneller als die Polizei erlaubt“.

Das zweite Element, das hier Begabtenförderung betreibt, sind die Begabten selbst. Es sind Menschen, die sich ein Ziel setzen und dieses konsequent verfolgen. Sie bekommen von uns einen Planungsrahmen, der ihnen Spielräume verschafft. Und weil sie „besonders begabt“ sind, nützen sie diese Spielräume.

Das dritte Element der Begabtenförderung sind aber die Lehrerinnen und Lehrer, ohne deren Flexibilität und Engagement das alles nicht möglich wäre und die von solchen Studierenden auch ab und zu ganz schön gefordert werden. Unsere Studierenden sind Individuen in durchaus speziellen Situationen, die man nicht „über einen Leisten schlagen“ kann. Unsere Lehrerinnen und Lehrer wissen das; sie „machen da viel mit“ – im Doppelsinn des Wortes.

Nein: die „zweite Chance“ und Begabtenförderung sind kein Widerspruch.


erschienen in: Karin Eliskases, Hg. (2015): Jahresbericht des Bundesgymnasiums für Berufstätige Innsbruck 2014/15. S. 12-14.

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