Veröffentlicht in Politik

Der neue Gegensatz: Pest vs. Cholera statt Links vs. Rechts

Zwei Jahrhunderte lang war die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung die zwischen „Links“ und „Rechts“. „Links“ – das hieß Sozialdemokratie und / oder Sozialismus und / oder Kommunismus in allen Spielarten. Links verstand sich als die Vertretung der sozial Benachteiligten, der Ausgebeuteten, der Lohnabhängigen. Rechts – das hieß liberal und / oder konservativ und / oder faschistisch. Rechts verstand sich als Vertretung der Besitzenden, der „Leistungsträger“, der Führenden. In beiden Lagern gab es demokratische und undemokratische Spielarten und die „soziale Marktwirtschaft“ war der breite Kompromiss, hinter dem sich parlamentarisch-demokratische Linke und Rechte finden konnten. Nicht wirklich zuordnen in diesem Schema ließ sich der Anarchismus, der jenseits seiner linken Ausformungen auch „libertäre“ rechte Spielarten entstehen ließ.

Mit dem Untergang des sog. „real existierenden Sozialismus“ und dem scheinbaren „Endsieg“ des Kapitalismus verschoben sich in den parlamentarischen Demokratien Gewichte. Der Liberalismus, sogar in einer „linken“ Spielart als „Linksliberalismus“, wurde zur allein herrschenden Ideologie. Alles wurde letztlich auf „Märkte“ bezogen, auch das Sozialsystem, auch das Gesundheitssystem, auch das Bildungssystem. In den prinzipiell privilegierten, wohlhabenden Staaten des sogenannten „Westens“ – der aus Mittel-, Nord- und Westeuropa, Teilen Südeuropas und Nordamerikas und aus Japan besteht – ging das eine Zeitlang noch relativ gut. Die Armut großer Teile der Bevölkerung wuchs zwar, wurde aber durch eine durchschnittliche Hebung des Lebensstandards, messbar in einer überbordenden Unterhaltungsindustrie und zahllosen Entertainment-Geräten, zugedeckt.

Worauf aber gründet sich der relative Wohlstand des sogenannten Westens? Er gründet sich auf die jahrhundertelange Ausbeutung der Bevölkerung Afrikas und Südamerikas (und Asiens); er besteht in der Aneignung der Bodenschätze der Völker im Nahen Osten. Wenn es einen wirklich „fairen Handel“ gäbe, würden die Preise für Benzin, für Erdölprodukte, für Südfrüchte, für Textilien im Westen schlagartig explodieren. Das würde keine parlamentarisch-demokratisch gewählte westliche Regierung aushalten. Sofort würden die weltweit gegebenen Unterschiede innerhalb des Westens sichtbar und schlagend werden. Die zarte Tünche über der Verelendung großer Bevölkerungsgruppen innerhalb des Westens („Hartz IV“ usw.) wäre über Nacht weg.

Der weltbeherrschende Kapitalismus in seinem jüngsten Mäntelchen als Neoliberalismus kostet jeden Tag Tausenden von hungernden Erwachsenen und Kindern das Leben. Er ruiniert den Planeten und sein Klima; er hält Millionen regelmäßig von Wohlstand, Bildung und einer gerechten Gesundheitsversorgung fern. Er ist eigentlich eine schwere Krankheit; ich nenne das hier „die Cholera“.

Ja, es gibt den politischen Gegensatz zwischen Ausgebeuteten und Besitzenden immer noch. Er stellt sich heute aber global. Besitzende gibt es in allen Ländern – aber vor allem im Westen. Dort gehört die „Mittelklasse“ global gedacht zu den Privilegierten. Ausgebeutete gibt es auch in allen Ländern – vor allem aber im sogenannten „Süden“. Dort gehört die „Mittelklasse“ global gedacht zu den Betrogenen.

Der Gegensatz zwischen Ausgebeuteten-Betrogenen und Privilegierten-Bevorzugten wird sich in den nächsten 20-30 Jahren zunehmend verschärfen. Die Flüchtlingsströme des Jahres 2015 sind nur ein winziger Vorbote kommender Katastrophen. Selbstverständlich werden sich diejenigen aus dem Nahen Osten und aus Afrika und aus Südamerika, die eine Chance sehen, aus ausgebeuteten Verhältnissen zu entkommen, auf den Weg machen. Es sind nicht die „Armen“ der „armen Länder“, die flüchten, sondern gebildete, mobile Menschen, die ihre Chance nutzen wollen. Die Mittelklasse des Südens macht sich auf den Weg nach Westen, um auch dort Mittelklasse zu werden.

Was tut der Westen? Es gibt viele Menschen, die Flüchtenden helfen; aber was tut das System? Es baut Zäune, es baut Mauern, es verwendet Meere als Massengräber. Das ist nach der Sklaverei im Kolonialismus und der wirtschaftlichen Ausbeutung im Imperialismus die dritte Stufe der Schuld Europas und des Westens am Süden. Innenminister und Innenministerinnen, die „den Zaun wollen“, sind bloß die exekutierenden Organe dieser Schuld.

Wir werden im Westen auf Dauer mit dem sogenannten Flüchtlingsproblem leben müssen. Und selbstverständlich gibt es prinzipiell zwei Positionen dazu: den Flüchtenden helfen und die Flüchtenden abwehren. Die Sozialdemokratien werden zerrieben zwischen den Ängstlichen, die ihren (aus globaler Sicht kleinen, relativ bescheidenen) Besitzstand wahren wollen und die zu rechtspopulistischen und faschistischen Parteien abwandern, und den Gutwilligen, die die Notwendigkeit des Teilens und Helfens einsehen, die das Recht auf Asyl verteidigen und grün oder – wenn vorhanden – links wählen.

Allerdings ist eine globale „linke“ Ideologie weitgehend verloren gegangen. Die globale „Rechte“ gibt es weiterhin. Welche Ideologie tritt an die Stelle einer globalen Linken? Wo finden die, die Ausbeutung erkennen wollen und können, ein Gedankengebäude, das ihren Beobachtungen System und Struktur gibt?

Der Marxismus war ein europäisches Produkt. Er ist für die Ausgebeuteten im globalen Sinn als solches verdächtig. Außerdem ist er als sog. „realer Sozialismus“ in sich zusammengefallen und die ehemals sozialistischen Parteien des Westens sind schon lange nicht mehr marxistisch. Das Christentum ist als Religion des Westens diskreditiert, schon seit Jahrhunderten. Der Buddhismus bringt faszinierende Individuen hervor, ist aber im Hier und Jetzt politisch wenig anwendbar.

An die Stelle der linken Ideologie von früher tritt eine Spielart des Islams, der radikale Djihadismus. Ob er als „Islamischer Staat“, als Taliban, als Al-Kaida oder als Boko Haram oder als relativ ziviler Salafismus auftritt, macht kaum Unterschiede. Er erhebt den Anspruch, die Global-Betrogenen zu befreien. Dass er dabei mit westlich-demokratischen Vorstellungen nichts zu tun hat, ist logisch. Dass er aus der Sicht eines aufgeklärten West-Menschen eine üble, religiös verbrämte Spielart autoritärer Systeme von früher ist, ist ebenso logisch. Der Djihadismus ist nicht das Medikament gegen die Cholera; er ist die Pest. Aber als vorgetäuschtes Medikament ist er trotzdem für manche orientierungslose junge Menschen, auch aus dem Westen, auch für Gebildete attraktiv. Er punktet mit Heilsversprechungen (Heilslügen), die keine andere Ideologie, keine andere Religion bietet.

Die Auseinandersetzung zwischen dem kriegerisch autoritären Islam (nicht dem Islam an sich!) und den autoritären Besitzstandswahrern des Westens wird die wesentliche Auseinandersetzung werden – wenn es nicht gelingt, diesen beiden Seiten eine wirklich linke, ökologisch-soziale Alternative entgegen zu setzen. Leider deutet im Moment wenig darauf hin, dass so etwas gelingt. Die grünen Parteien sind im Großen und Ganzen „linksliberal“ geworden; wirkliche demokratische Linke gibt es kaum noch. Salafismus einerseits und fremdenfeindliche Arroganz in immer neuen Gewändern (FPÖ, AfD, SVP …) andrerseits: das scheint die Wahl zu werden. Das wäre eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Alles dazwischen organisiert sich kaum, bietet kaum langfristige, globale Perspektiven.

Ja, Flüchtlingsströme machen vielen Menschen Angst. Angst davor, das kleine Quäntchen relativen Wohlstands teilen zu müssen. Den Menschen reinen Wein einzuschenken und zuzugeben, dass es diese Flüchtlingsströme weiterhin geben wird, ja dass sie zunehmen werden, dass es sowieso dazu kommen wird, dass die Ausgebeuteten dieser Welt es irgendwann satt haben werden und sich ihren Anteil vom globalen Kuchen, der ihnen seit Jahrhunderten zusteht und vorenthalten wird, holen wollen, wenn nötig mit Gewalt – das wird sich keine demokratische Partei des Westens trauen. Wir werden rechtspopulistische Mehrheiten in den Parlamenten haben. Und wir werden dazu einen Terrorismus haben, den wir nicht niederbomben können, und wenn wir ihn niederbomben wollen, wird jede Bombe mit ihren „Kollateralschäden“ neue Terroristen erzeugen.

Oder es gelingt, die westlichen Demokratien umzubauen in Staaten, die von sich aus eine global gerechte Aufteilung des Wohlstands anstreben; die ihren BürgerInnen erklären können, dass es die globale Ausbeutung nicht mehr geben kann und darf; dass wir also Wohlstand global und regional neu verteilen und also verzichten müssen, um berechtigt in Frieden leben zu können.


… erschienen als Gastkommentar auf der Seite der Solidarwerkstatt

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