michael bürkle

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Michael Bürkle

Die Varietäten des Deutschen im österreichischen Rundfunk

1. Das Klischee vom sprachlichen Zerfall

Dialekt im Rundfunk, Dialekt im Fernsehen? Je nachdem, aus welcher Position man argumentiert, fällt der Befund verschieden aus. Sprachpuristen werden in den heutigen Medien viel „Zerfall“ orten können. Oft hört man den Vorwurf, daß die heutigen Radiosprecher kein gutes Hochdeutsch mehr sprechen, daß sie Dialekt und Umgangssprache in ihren Sendungen verwenden. Der Rundfunk komme der „spracherzieherischen Verpflichtung“, die der alte Siebs postuliert hatte (Siebs 1969 153), nicht mehr nach. Die Chefsprecherin des ORF, Eva Wächter-Kollpacher, gibt offiziell zwar eine „große Verantwortung” des ORF „in sprachlicher Hinsicht“ zu, lehnt aber eine Rolle des ORF als „Oberlehrer der Nation” ab (Wächter-Kollpacher 1995 270).

Wenn man sich dann auf die Suche nach dem Dialekt im Rundfunk macht, wird man allerdings kaum fündig. Kurz zusammengefaßt: Was man findet, ist normaler­weise öster­reichischer Standard. Nur in sehr wenigen Sendungen verwenden Rundfunk­sprecher als „normales“ Register ein „tieferes“. Allerdings findet man viele Fälle kurz­fristigen „Switchens“ – und dies mag manchen als Sprachzerfall erscheinen.[1]

2. Ein Exkurs – was ist österreichischer Standard?

Die sprachliche Situation in Österreich ist u.a. dadurch gekennzeichnet, daß es…
a) eine Vielfalt von Varietäten des Deutschen gibt
und daß
b) diese Varietäten in vielen Situationen eingesetzt werden können.

Nun gibt es auch in anderen deutschsprachigen Ländern den Antagonismus zwischen oder das Zusammenspiel von Dialekt und Standardsprache. Für Österreich spezifisch ist allerdings, daß zwischen Basisdialekten und der Standardsprache eine Art Kontinuum möglich ist. Die im wesentlichen bairischen Dialekte (des Großteils) Österreichs sind insgesamt von der Standardsprache nicht sehr weit entfernt; sie stehen ihr jedenfalls näher als die alemannischen Dialekte der Schweiz oder als niederdeutsche Dialekte.

Dieses Kontinuum zwischen österreichischen Dialekten und dem Standard wird in verschiedener Weise beschrieben. Peter Wiesinger hat es mit 4 „Schichten“ versucht (Basisdialekt – Verkehrsdialekt – Umgangssprache – Hochsprache), Andreas Weiss hat sogar 6 Schichten angesetzt.[2] Alle diese Lösungen sind nicht richtig oder falsch, sondern einer Fragestellung adäquat oder nicht. Jedes dieser Schichtenmodelle ist der Versuch, das existierende Kontinuum durch diskrete Einteilung in den Griff zu bekommen.

Dieses Kontinuum von Registern zwischen den Polen Dialekt und Standard wird wohl von allen österreichischen SprecherInnen mehr oder minder genützt. Und die Art, wie die Sprecher das nützen, ist wiederum spezifisch: es ist in Österreich in fast jeder Situation möglich, verschiedene sprachliche Register zu ziehen – auch im akademischen Vortrag eines erfahrenen und geschulten Sprechers können dialektale Merkmale bewußt oder intuitiv-unbewußt eingesetzt werden. In einer früheren Untersuchung versuchte Peter Wiesinger, Situation und Dialektverwendung zu korrelieren. Die Tatsache des Registerwechsels (oder „Switchens“) war den linguistisch ungeschulten Gewährspersonen so deutlich, daß die Untersuchung um die Antwortvariante „passe mich an“ erweitert werden mußte (vgl. Wiesinger 1990)

Von vielen Nicht-Österreichern wird diese Eigenschaft österreichischer Sprecher als Unfähigkeit gesehen: entweder als Unfähigkeit, das Sprechen in der Hochsprache durchzuhalten oder gar als Unfähigkeit, überhaupt Standard sprechen zu können. „Alle Ösis sprechen Dialekt.“ Man kann dagegenhalten, daß die Fähigkeit, switchen zu können, nun ja wirklich keine Unfähigkeit ist, und tatsächlich genießt ein gut ausgebildeter österreichischer Sprecher, der Standard gelernt hat, ohne das Kontinuum aufzugeben, einen Mehrwert an sprachlichem Inventar. Zugeben muß man freilich, daß es viele Personen in Österreich gibt (die sogenannten „einfachen Menschen“), die zeit ihres Lebens mit Dialekt und dialektgefärbter Umgangssprache ohne weiteres ihr Aus­kommen finden, die deshalb nie Standardsprache „lernen“ und denen es äußerst schwer fällt, Standardsprache zu sprechen oder durchzuhalten.[3]

Es ist aus diesen Gründen schwierig, „österreichischen Standard“ überhaupt zu definieren. Ein Verfahren über die Pragmatik funktioniert hier nicht – man kann nicht sagen, was ein Professor, gar etwa ein Politiker in öffentlicher Rede spricht, sei Standard.

Trotzdem gibt es österreichischen Standard, und zwar nicht nur als „idealen“, nie erreichten Punkt am Ende der Skala sprachlicher Register. Seine Er­for­schung setzt aber eine kritische Analyse tatsächlich gesprochener Sprache voraus, die die Konversationsbedingungen miteinschließt. Nicht umhin kommt man dabei um das Problem einer Wertung. Ich denke, daß in Arbeiten der letzten Jahre der österreichische Standard bereits recht gut beschrieben worden ist.[4] Wesentliche phonetische Merkmale dieses Standards sind etwa:
– weitestgehend stimmlose Konsonanten
– Opposition von stimmloser Lenis und stimmloser Halbfortis bei Verschluß­lauten
– Opposition von geschlossenem Langvokal und geschlossenem bzw. halb­geschlossenen Kurzvokal
– „flache“ Diphthonge
– Ausfall des Zentralvokals in vielen konsonantischen Umgebungen
– Assimilationserscheinungen vor allem von n nach und vor bilabialen und velaren Geräuschlauten

3. Die sprachlichen Register in den Sendungen des Rundfunks

3.1. Nachrichten

Als wohl „idealste“ Realisierung des österreichischen Standards ist die Sprache der Nachrichtensendungen zu sehen. Allerdings – und typischerweise – handelt es sich bei Nachrichten ja eigentlich nicht um gesprochene, sondern um geschriebene und verlautbarte Sprache. Obwohl in Nachrichtensendungen fallweise (doch relativ selten) sogar Formen zu finden sind, die aus österreichischer Perspektive als hyperkorrekt (also „falsch“) zu qualifizieren wären – z.B. stimmhafte s-Laute oder die Aussprache der Nachsilbe –ig mit ich-Laut –, sind österreichische Nachrichtensprecher praktisch immer ohne weiteres als Österreicher erkennbar. Das ist angesichts der Situation des Nachbarlandes Schweiz nicht völlig selbstverständlich: in der Schweiz, deren sprachliche Situation oft als „mediale Diglossie“ (Mündliches im Dialekt, Schriftliches im Standard) beschrieben wird, klingen Nachrichtensprecher oft derart neutral, daß ihre Zuordnung zur Schweiz nur mehr sehr eingeschränkt möglich ist.[5] Offenbar „schützt” das Kontinuum zwischen Dialekt und Standard den Standard vor einem „Abdriften“ Richtung Bühnensprache.
Es ist übrigens tatsächlich der Verlautbarungscharakter, der den Nachrichten ein sehr einheitliches Sprachniveau beschert. Verlautbart der Sprecher / die Sprecherin nicht mehr, kann das schnell umgangssprachlich werden. Als etwa in einer 8-Uhr-Nachrichtensendung von Ö1 Ende Juni 1997 die Übergabe an den englischen Sprecher nicht sofort funktioniert, gerät die übergebende Nachrichtensprecherin in eine Stress­situation, die sie meistert mit den Worten wir ham da a bissl a Problem – Moment – ich glaub jetzt gehts.

Eine Sonderstellung innerhalb der Nachrichten nimmt der Wetterbericht ein, auch, wenn er von professionellen Sprechern gesprochen wird. Wetterberichte werden im Schnitt mit deutlicheren österreichisch-regionalen Merkmalen gesprochen als die politischen Nachrichten. Die Diphthonge sind flacher, ohne deshalb zu Monophthongen zu werden – ein Wienerisches “hääß” [hε:S] (für heiß) ist also auch im Wetterbericht nicht denkbar; die Opposition zwischen Lenis und Halbfortis bzw. Fortis bei Verschlußlauten kann weniger deutlich realisiert sein.

3.1.1. Die Sprache von Politikern

Es wäre für einen österreichischen Politiker wahrscheinlich kontraproduktiv, „akzentfreies“ Deutsch zu sprechen; man könnte sich damit unbeliebt machen, man könnte als abgehoben, distanziert, kalt erscheinen. Ich nehme an, daß viele Spitzenpolitiker zwar täglich österreichischen Standard sprechen oder das zumindest können, daß sie aber geradezu lernen, diesen Standard immer wieder mit dialektalen oder umgangs­sprachlichen Elementen zu versetzen. So spricht etwa Unterrichtsministerin Gehrer, als sie am 7. Juni 1997 mittags „im Journal zu Gast“ ist, im wesentlichen österreichischen Standard, weicht aber immer wieder in einzelnen Wörtern davon ab: sie sagt zum Beispiel einmal gesogt (mit offenem o [O]), sie spricht davon, daß die Lehrer a Woche vor Schulanfang do sind, sie meint, es brauche also ka Verordnung und keine Zwangsmaßnahme (mit typischem Wechsel zwischen dialektalem ka und standardsprachlichem keine) und sie verwendet fast abwechselnd standard­sprachliches Frage und umgangssprachliches Froge (mit neutralem, langem o-Laut). Typisch sind auch standardsprachliche Fügungen wie i halte es für wirklich negativ mit dem Dialektmerkmal i für ich oder ich meine, daß ein Lehrer dann ein guter Lehrer is, wenn er… mit der Dialektkonzession is statt ist.

Die Frau Unterrichtsminister ist in ihrem sprachlichen Verhalten hier typisch und sie ist dabei erfolgreich. Die umgangssprachlichen Versatzstücke ihrer Rede bleiben für das große Publikum vermutlich unter der Schwelle der bewußten Wahrnehmung; unterbewußt werden ihre Signale durchaus wahr­genommen, und zwar als Signale von „Volksverbundenheit“. Ob Frau Gehrer damit – wenn sie Gleiches als Schülerin machte – einen kritischen Matura­vorsitzenden nicht zum Protest in Form korrigierender Zwischen­bemerkungen bringen würde, wage ich zu bezweifeln. Ich weiß aus Erfahrung, daß bei mündlichen Reife­prüfungen schon geringere Dialektsignale zum Eingriff des Vorsitzenden geführt haben – obwohl zugestanden werden muß, daß es sehr von der Person des Vorsitzenden und auch seiner Tagesverfassung abhängt, ob interveniert wird oder nicht. Vielleicht hätte Frau Gehrer Glück.

3.2. Moderation

In der Moderation ist der Sprecher kaum an eine schriftliche Vorlage gebunden. Dem entspricht eine Realisierung, die fallweise durchaus umgangs­sprachliche Elemente einbaut, besonders dann, wenn etwa auf nicht-professionelle Sprecher eingegangen werden soll – ähnlich, wie das Politiker tun. Beispiele findet man viele. Im 100.000-Schilling-Quiz des Senders Ö3 faßt etwa der Sprecher Andi Knoll einen Spielstand mit den Worten zusammen joo (mit langem, neutralen o-Laut) dann schau ma auf unsere Punktetafel. Er tröstet vorbeugend mit von einem muß [ohne Diphthong!] i mi leider verabschieden.

Dem widerspricht nicht, daß in Situationen, in denen es um besondere Deutlichkeit geht, auch „nach oben“ abgewichen werden kann. In der Vorbereitung auf eine Quizfrage geht es z.B. darum, daß in Wiener Geschäften Preise in Schilling und in Euro angeschrieben wurden – ich habe selten ein so „schönes“, unösterreichisch behauchtes Auslaut-t gehört wie im kleinem Wörtchen und zwischen Schilling und Euro.

Besonders leistungsfähig in seiner Anpassung an die Gesprächspartner ist der in Tirol offenbar sehr beliebte Moderator Staudinger, der u.a. in Ö2 (Region Tirol) eine musikalisch begleitete Tauschbörse moderiert. Staudinger spricht zunächst österreichischen Standard, allenfalls mit leichten Tiroler Einsprengseln, etwa einem doch recht nahe dem ach-Laut befindlichen ich-Laut. Sobald er aber mit den anbietenden Anrufern spricht – fast alle Anrufer gehen kaum über den tirolischen Verkehrsdialekt hinaus und zeigen bisweilen sogar basisdialektale Merkmale –, switcht Staudinger um einige Ebenen tiefer. Die Zusammen­fassung des jeweiligen Angebots geschieht dagegen in der Regel wieder im Standard oder standardnahe.

3.2.1. Zur Moderation von Volksmusiksendungen

Lediglich – fast ausschließlich – ein Bereich des Programms des Österreichischen Rundfunks scheint für den systematischen Einsatz von Dialekt geeignet: es handelt sich um die Moderation von Volksmusiksendungen. Dabei denke ich weniger an Sprecher wie Karl Moik. Moiks Musikantenstadl ist aufgrund seines die österreichischen Staatsgrenzen überschreitenden Publikums für eine durchgängige Moderation im Dialekt nicht mehr geeignet; es muß deshalb auch beim Setzen von einzelnen „Dialektmarken“ (in Anlehnung an zoologische „Duftmarken“) bleiben – die erste dieser Marken wird ja schon im Sendungstitel gesetzt.

Volksmusiksendungen mit weniger internationalem Publikum können allerdings wirklich in einer Art Dialekt moderiert werden. Dabei zeigt sich schnell, wie problematisch der Einsatz eines sprecherabhängigen Basisdialekts wäre – es etabliert sich für diesen Moderationstyp eine Art Dialekt als Kunst­sprache. Man verzichtet weitestgehend auf echtes Dialektvokabular (erklärt trotzdem auftretende Dialektwörter) und versammelt in der Moderation dafür alle wichtigen Merkmale ähnlicher Dialekte eines größeren (?) Gebiets, das vielleicht einige Bezirke umfaßt. In Tirol ist etwa der Verkehrsdialekt des Unterinntals ab Jenbach bzw. Schwaz als Basis für diesen Kunstdialekt beliebt; es kommt zu Moderationen, in denen z.B. die mittelbairische Konsonanten­schwächung (Peter –> [be:da]) kombiniert wird mit Vokalisierungen von l-Lauten (voll –> voi) und den damit einhergehenden Vokalrundungen (viel –> ).

Offenbar spielen der „Dialekt“ der Moderation und die Volksmusik für relevante Teile des Publikums ähnliche Rollen. Es geht dabei wohl mehr um die Stiftung von (echter oder falscher, jedenfalls hinterfragbarer) Identität als um die emotionelle Ansprache, ums „G´müet“, wobei zugegebenermaßen beide Dinge nicht völlig voneinander zu trennen sind. Daß Dialekt zur Identitätsstiftung nicht unbedingt nur zusammen mit volkstümlicher Musik oder mit echter Volksmusik funktioniert, beweist der moderierende Ostbahn-Kurti. Auch er spricht natürlich einen Dialekt, der ein Kunstprodukt (nicht nur im negativen Sinn) ist.

3.3. Die Werbung im Rundfunk

Für die Werbung gilt in besonderem Maß, was für weite Teile der Einweg-Kommunikation zwischen Rundfunk und Publikum gilt: die Sprache des Rundfunks steht in vielen Bereichen (nur in manchen nicht, bei den Nachrichten etwa) im Spannungsfeld zwischen möglichst weiträumiger Verständlichkeit und einer „warmen“, emotiven Ansprache an das Publikum. Dies wird geleistet, indem man den Standard zur Basis der (Werbe-)Sprache im Rundfunk macht. Zwar wäre – bis auf wenige Ausnahmen – auch jeder österreichische Verkehrsdialekt in Österreich eher mehr als minder verständlich; da aber die Urteile über Schönheit oder Sympathie der Dialekte durchaus verschieden sind, wird es im Normalfall nicht für opportun gehalten, Werbung in einem Dialekt zu senden.

Auch die Werbung löst das Problem deshalb in den meisten Fällen ähnlich wie die Politik: sie setzt auf standardsprachlicher Basis dialektale Marken. (Es koexistieren hier freilich mehrere Modelle: es gibt z.B. auch den Typ des betont seriösen „Fachmannes“, wie ihn Persil verwendet hat: der „Experte“, der praktisch akzentfrei oder sogar mit leicht „deutschem“ Einschlag seine „Autorität“ versprachlicht.)

Wie sieht das aus? Die Arbeiterkammer Tirol gestaltet ihre aktuelle Imagewerbung z.B. in österreichischem Standard. Erst am Ende, im Schlußslogan heißt es: AK (mit stark velarem, also betont Tirolerischem „Kcha”) Tirol – wir sind für Sie do (mit neutralem o-Laut). Ebenso die Werbung für ein Radler-Getränk: alles in österreichischem Standard, erst im Slogan mit breitem sch-Laut: XY – wenn der Durscht ruft. Ein „perlfrisches“ Mineralwasser legt sich einen Linzer (oder Meidlinger?) l-Laut in den Wörtern perlfrisch und weil zu. Ein englisch klingender Eistee geht etwas weiter und läßt einen Sprecher schmeiß umi sagen, wobei der Diphthong fast ein Wiener Monophthong wird.

Die dialektal-umgangssprachlichen Marken müssen nicht auf der phonetischen Ebene gesetzt werden, es geht auch lexikalisch: man integriert das Häferl, ein bisserl, ein Packerl in den sonst standardsprachlichen Werbetext.

3.4. Die Sprache von Gewährspersonen

Es bleibt im Rundfunk nur ein Platz für autochthonen Basisdialekt: man hört ihn zuweilen dann, wenn Personen aus dem Volk ans Mikrofon treten dürfen. Meistens ist damit innerhalb von Österreich kaum ein ernstes Verständlich­keits­problem verbunden. Es ist so durchaus möglich, eine ältere Dame aus Oberösterreich in ihrem Basisdialekt (oder jedenfalls einem Register, das von diesem nicht weit entfernt ist) über ihre Erfahrungen als 17-fache Pflegemutter und über ihre Pflegekinder erzählen zu lassen. [6] Das wird vom Arlberg bis zum Neusiedlersee recht gut verstanden. Ein paar verbindende standardsprachliche Worte der Moderatorin sichern außerdem Verständnis.

Nicht so selbstverständlich verstanden wird diese Dame freilich zwischen dem Bodensee und dem Arlberg – und umgekehrt. Die alemannisch-bairische Sprachgrenze am Arlberg macht sich auch im Umgehen mit Dialekten bemerkbar. Als vor einigen Jahren der grüne Landtagsabgeordnete Simma im Vorarlberger Landtag seine Antrittsrede bewußt im identitätsstiftenden Dialekt hielt, mußten die gesendeten Redeausschnitte für die 96% Österreicher im bairischem Dialektgebiet untertitelt werden. Ähnliches geschah auch der Mutter des aus Vorarlberg stammenden brasilianischen Bischofs Kräutler. Mutter Kräutler versucht im Fernsehfilm von Johannes Neuhauser (Vorarlberg Amazonas retour) zuerst, Fragen zu ihrem berühmten Sohn standardnahe zu beantworten; es entsteht dabei zunächst eine sprachliche Kompromißform, die offenbar für das österreichische Publikum noch verständlich ist. Als Mutter Kräutler aber Dinge über ihren Sohn erzählt, die ihr offensichtlich besonders nahegehen, in denen sie emotionell stark engagiert ist, verfällt sie sogar gegenüber dem Mann mit der Fernsehkamera in ihren Dialekt – und den muß Neuhauser für sein „innerösterreichisches“ [7] Publikum untertiteln.

3.5. Dialektales als Oppositionelles

Die fast durchgängige Verwendung standardbasierter Formen im Rundfunk ermöglicht natürlich auch eine Gegenstrategie. Wenn alle Standard sprechen, kann ich den Dialekt als Abgrenzungssymbol einsetzen. In der oben zitierten Sendung des Moderators Staudinger wird Herr Schett von der kritischen Osttiroler Musikgruppe Franui interviewt. Schett verwendet dabei – bei gleichzeitiger inhaltlicher Abgrenzung von anderen Musikern, die Elemente der Volksmusik verwenden – sehr bewußt seinen Villgratner Dialekt, der vom Ortsdialekt nicht sehr weit entfernt sein dürfte.

Als Hermes Phettberg noch Josef Fenz und nicht so berühmt wie heute war, waren erstaunliche Features mit ihm und über ihn zu hören. In diesen Features verwendete auch Phettberg ein Idiom, das von Dialektismen auf lautlicher und lexikalischer Ebene geradezu durchsetzt war. Da war selbstverständlich von Lurch und Glumpert die Rede, und da gab es Wiener Monophthonge, die „raunzerische“ Nasalierung usw. usf.

4. Resumee

Ich fasse zusammen: bis auf die Sprache nicht-professioneller Gewährs­personen, die in fast jedem Register – also auch als Basisdialekt – auftreten kann und mit der Ausnahme des Kunstdialekts bei der Moderation von Volksmusik (oder was darunter verstanden wird), kennt der Rundfunk in Österreich keinen Dialekt. Kompromisse mit den Umgangssprachen müssen aber fallweise geschlossen werden; sie äußern sich – bei Politikern, bei Moderatoren, in der Rundfunkwerbung – als einzelne dialektale oder umgangssprachliche Mar­kierungen in im wesentlichen standardsprachlichen Texten.

Gerade dieser immer wieder auftretende kurzzeitige Registerwechsel kann leicht als sprachlicher Qualitätsverlust (miß-)verstanden werden. Er entspricht aber einem allgemein in Österreich üblichen Umgehen mit den sprachlichen Registern. Es ist in Österreich möglich, daß ein ordentlicher Universitäts­professor für germanistische Linguistik eine Zwischenfrage zu seinen standardsprachlichen Ausführungen mit Des isch doch kloar beantwortet und dann im Standard weiterreferiert. Oder: In einer Podiumsdiskussion an der Universität Innsbruck spricht ein Tiroler Tourismusmanager vor vollem Hörsaal von der Gemeinde Mieders abstrakt mit langem i-Laut [mi:dεrs]; im buchstäblich nächsten Wort – das aber schon Teil der exemplarischen Ebene der Argumentation ist – wird das lange i diphthongiert [mi∂dεrs]. Solche Registerwechsel sind offenbar für Österreich typisch. Im angrenzenden Bayern, das im wesentlichen über die gleichen Register verfügt, wird mit diesen Registern anders umgegangen.


Literatur:

Bürkle, Michael (1995a): Zur Aussprache des österreichischen Standard­deutschen. Die unbetonten Silben. Frankfurt/Main-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien. (= Schriften zur deutschen Sprache in Österreich 17).

Bürkle, Michael (1995b): Österreichische Standardaussprache: Vorurteile und Schibboleths. In: Rudolf Muhr, Richard Schrodt, Peter Wiesinger, Hg.: Österreichisches Deutsch. Linguistische, Sozialpsychologische und sprach­politische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. (= Materialien und Handbücher zum österreichischen Deutsch und zu Deutsch als Fremdsprache 2). S. 235-247.

Rusch, Paul (1988): Die deutsche Sprache in Österreich. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 14, S. 35-57.

Scheichl, Sigurd Paul (1993): Konnte Grillparzer Deutsch? Gedanken zu einer Geschichte der deutschen Literatursprache in Österreich. In: Das Fenster 27, Heft 55, S. 5324-5331.

Siebs (1969). Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch. Hgg. von Helmut de Boor, Hugo Moser und Christian Winkler.

Wächter-Kollpacher, Eva (1995): Die Sprecherschulung im ORF. In: Rudolf Muhr, Richard Schrodt, Peter Wiesinger, Hg.: Österreichisches Deutsch. Linguistische, Sozialpsychologische und sprach­politische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. (= Materialien und Handbücher zum österreichischen Deutsch und zu Deutsch als Fremdsprache 2). S. 269-279.

Weiss, Andreas (1988): Bewertung und Wahl von Sprachvarietäten in Österreich. Analysen zur Validität von Sprachgebrauchseinschätzungen. In: Peter K. Stein, Andreas Weiss, Gerold Hayer, Hg.: Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag. Göppingen. (= GAG 478) S. 231-258.

Wiesinger, Peter (1990): Standardsprache und Mundarten in Österreich. In: Gerhard Stickel, Hg.: Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Per­spektiven. Berlin-New York. S. 218-232.


Anmerkungen:

[1] „In Österreich herrschen wie in Süddeutschland kontinuierliche Übergänge zwischen Dialekt und Standardsprache. So bestimmen nicht nur die dialektalen Artikulations- und Informationsgewohnheiten weitgehend die Standard­sprache, sondern können je nach Situation, Partner oder Gesprächsklima durchaus auch Dialektismen in die Rede einfließen. Aus norddeutscher Sicht mit einer klaren polarisierten Trennung von Dialekt auf der einen und Standardsprache auf der anderen Seite als Diglossie mutet daher der durchschnittliche österreichische Gebrauch der Standardsprache eher als deutlich dialektal gefärbte Umgangs­sprache an. […]” (Wiesinger 1990 219)

[2] „Die Benennungen in den Befragungen 1982 und 1987a etablieren eine Skala von sechs Varietäten auf der Basis der Grundformen Dialekt (Dial), Umgangssprache (Ugsp), Standardsprache (Stsp), erweitert durch die Zwischen­formen Umgangssprache mit dialektaler Färbung (Ugsp/dial), Standardsprache mit umgagssprachlicher Färbung (Stsp/dial). Standardsprache wird in zwei modifizierten Formen eingeführt, und zwar als Standardsprache mit öster­reichischer Prägung (Stsp/öst) und als Standardsprache / akzentfrei (Stsp/afr)”. (Weiss 1988 262)

[3] Um Mißverständnissen vorzubeugen: solche Sprecher gibt es wohl in allen deutsch­sprachigen Staaten und Regionen. Allerdings leiden Österreicher fallweise unter dieser Unfähigkeit, nicht „Hochdeutsch” zu können, während Menschen mit mitteldeutsch-niederdeutschem Zungenschlag bisweilen voll Selbstbewußtsein ihr Idiom als Hochdeutsch empfinden. Linguistik studierende Österreicher lernen am Beginn ihrer sprach­wissen­schaftlichen Ausbildung, daß allein ihr Dialekt schon „hochdeutsch” sei – und sind verblüfft, denn der Volksmund hat sich über mehrere Jahrhunderte lang nördlich klingendes Deutsch als „besseres” Hochdeutsch einreden lassen. (Zum „nördlichen” Hochdeutsch als Literatur­sprache vgl. Scheichl 1993, vor allem S. 5326ff.). Mein Kollege Paul Rusch hatte diesbezüglich ein Schlüsselerlebnis: er wurde als österreichischer Lektor in Irland vom deutschen Kollegen mit deutlich westfälischem Akzent mit den Worten vorgestellt: „Das ist der Kollege Rusch. Er kommt aus Österreich, spricht aber (!) gut Deutsch.” (vgl. Rusch 1988 35)

[4] Für Details verweise ich auf meine Arbeit Bürkle (1995a); eine Zusammenfassung der Er­gebnisse verschiedener Arbeiten habe ich Bürkle (1995b) versucht.

[5] Ich habe im Rahmen der Betreuung linguistischer Seminare den Test mehrfach vollzogen.

[6] Es ist sogar notwendig, daß sie Basisdialekt spricht. Wenn sie es nicht dürfte, könnte sie nicht ohne weiteres erzählen.

[7] In Vorarlberg ist die Bezeichnung Innerösterreich für den Teil Österreichs östlich des Arlbergs gebräuchlich.


erschienen in: informationen zur deutschdidaktik 1997 / H.3, S. 61-69.


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