Veröffentlicht in fiction

Iniz, die 56. Stadt

„Die unsichtbaren Städte“ von Italo Calvino ist vielleicht das schönste je geschriebene Buch. 55 Skizzen unsichtbarer Städte, alle mit Frauennamen, streng gegliedert in 11 Fünfergruppen, alle als Modelle, mit denen Marco Polo erzählend seinem Zuhörer Kublai Khan Lebensentwürfe vedeutlicht.
Bei mir ist eine 56. Städteskizze gestrandet.


Die Städte und das Denken 1: Iniz

Die Stadt Iniz ist durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: Wenn ein Reisender mit seiner Karawane durch fruchtbare Täler zieht, kann es sein, dass er die Stadt Iniz passiert, ohne sie zu bemerken. Verborgen hinter grauen Mauern schmiegt sie sich zwischen Hügel, und der Reisende glaubt, ein unbedeutendes Städtchen vor sich zu haben, dessen Besuch nicht lohnt.

Tritt er aber durch das von geheimnisvollen Zeichen geschmückte Stadttor, stellt er fest, dass Iniz groß ist. Von ihrer Peripherie führt ein komplizierter, verwobener Weg in die Mitte der Stadt, zu einem Brunnen ungekannter Tiefe, an dem der Reisende sein Lager aufschlagen kann und der die Eigenschaft hat, im Reisenden das Erzählen zu wecken. Die Bewohnerinnen von Iniz hören lächelnd zu, wenn der Reisende von Erlebnissen erzählt, die er längst vergessen hatte. Iniz ist die Stadt, die Erinnerungen weckt.

Die Bewohnerinnen von Iniz legen gegenüber dem Reisenden großen Wert auf ihre Freiheit und auf eine Begegnung in Frieden. Sie werden abweisend, wenn sich ein Reisender nicht daran hält. Wie unnahbar sie sind, darüber bestehen verschiedene Gerüchte. Die Bewohnerinnen sind aber belesen und klug. Gespräche mit ihnen führen den Reisenden zu Einsichten, von denen er glaubt, es seien seine eigenen. So ist der Aufenthalt in der Stadt sowohl lehrreich als auch angenehm, und der Reisende erholt sich von Strapazen. Er muss lediglich darauf achten, dass die Restaurants am Abend geschlossen sind und in den Kneipen hauptsächlich grüner Tee serviert wird.

Durch das Visier einer Rüstung ist Iniz nicht zu erkennen. Auch dir, großer Khan, ist es nicht gelungen, Iniz zu unterwerfen. Noch heute schmunzeln die Bewohnerinnen, wenn sie von dir sprechen.

Aber so wohltuend der Aufenthalt in Iniz auch ist, so gefährlich ist er auch. Hat der Reisende die Stadt einmal betreten, wird er immer dann, wenn ihn seine Reisen woanders hinführen, Heimweh nach Iniz verspüren. Die Stadt ergreift nicht Besitz von ihm, doch sie haftet in seiner Sprache und in seinem Denken. Er will zurückkehren.

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