Veröffentlicht in allgemein, fiction

Leben in Krisen

Der Tag war anstrengend gewesen. Ich saß auf meinem Balkon und blinzelte in den abendlichen Himmel. Schönes Abendrot. Ein bisschen was vom Stadtverkehr war zu hören; die Bahnhofsuhr zeigte um die 7 Uhr.

Der Tag war anstrengend gewesen – das Management der Krise hatte wieder einmal seine Schatten vorausgeworfen. In Vorarlberg und in Kärnten waren 2 Cluster aufgepoppt: 45 Infektionen da, 23 dort. In Tirol war es derzeit ruhig. Ruhe vor dem Sturm? Kein Mensch konnte sagen, wie Schule im Herbst aussehen würde und es war gut, sich auf möglichst Vieles vorzubereiten. Aber wie bereitet man sich auf Unbekanntes vor? Nur eine Gleichung, aber viele Variablen. Rechts vom Gleichheitszeichen stand, dass es funktionieren musste.

Ich döste weg.

Ich sah auf. Irgendetwas hatte mich geweckt. Das Abendrot war intensiv. Aber irgendwas war anders. Ich sah – das:

Alles ganz normal. Nein, da fehlte was. Da war noch was gewesen. Links das Brandjoch, rechts die Sattelspitzen. Aber da hatte es doch noch etwas gegeben. Da fehlte was.

*

Die Lösung stand noch am selben Abend auf der regionalen Internet-Seite des Rundfunks. 2 junge Bergsteiger, Lisa F. und Dominik R., waren von einer Bergtour nicht zurückgekehrt. Ihre Bikes standen noch auf der Höttinger Alm. Und noch jemand fehlte: die Frau Hitt.

Kann ein Berggipfel unter 2 Bergsteigern zusammenbrechen? Ja. Unsere Berge bestehen zu einem Teil aus Frost. Permafrost. Und der löst sich auf. Unaufhaltsam. Klimaerwärmung. Nix mehr mit perma. Bergsteiger wissen, dass Routen unsicher werden. Und die Felsnadel, die aus Innsbruck nach einer steinernen Riesin ausgesehen hatte, war zusammengebrochen. Wer den letzten Stein losgetreten hatte, ließ sich nicht mehr ermitteln. Die beiden waren abgestürzt und waren unter dem Geröll, das über Jahrhunderte eine tourismustaugliche Bergsilhouette abgegeben hatte, begraben worden. Die hatten kein Problem mehr mit einem Virus.

*

Gestern hätte das Bild übrigens noch so ausgesehen:

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