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Neue Matura kennengelernt …

Ich habe im letzten Semester die neue Matura in der Praxis kennengelernt. Und ich gehöre zu den wenigen, die parallel dazu als Direktor an der eigenen Schule noch die „alte“ Matura erleben konnten. Der Vergleich ist interessant.

Die „Neue Matura“

Ich habe sie kennengelernt als Vorsitzender an einem Innsbrucker Gymnasium und als Direktor einer Schule, die auch „neue“ Berufsreifeprüfungen abzuhalten hat.

Die Vorwissenschaftlichen Arbeiten

Die habe ich vor dem 28. März kennengelernt. Eine Klasse mit 25 SchülerInnen. Durchaus interessante Arbeiten; nicht immer war das „wissenschaftliche Element“ prominent, aber mit den Vorwissenschaftlichen Arbeiten ist meiner Meinung nach schon ein Schritt nach vorne gelungen. Junge Menschen um die 18 beschäftigen sich über einige Monate lang relativ intensiv mit einem Thema und bringen ihre Gedanken möglichst nachvollziehbar und belegbar aufs Papier. Das ist keine schlechte Idee. (Es war auch schon bei der Fachbereichsarbeit von früher keine schlechte Idee; dort wars halt noch freiwillig; jetzt ist es Pflicht.)

Ich hatte alle 25 Arbeiten in Papierform und als pdf-Dateien zur Verfügung. Die VWA-Datenbank des Ministeriums wies zu jeder Arbeit die Anzahl der verwendeten Quellen und einen „Plagiatslevel“ aus. Der Plagiatslevel war überall dort relativ hoch, wo jemand längere Zitate übernommen hatte – auch wenn sie korrekt zitiert waren. Die Überprüfung nach Plagiaten geht nach billigen Prinzipien vor: Warnung bei längeren Übernahmen. Ob korrekt zitiert wird, kann offensichtlich algorithmisch noch kaum erfasst werden.

Ich habe bei den VWAs auch die Grenzen eines Vorsitzenden gesehen. Es hat eine Arbeit gegeben, für die ein „Sehr gut“ vorgeschlagen war, die ich aber als bestenfalls „Genügend“ gesehen habe. Bestenfalls! Die Arbeit war vom Ansatz her unsauber, sie verwendete wesentliche Begriffe falsch, sie formulierte und sie zitierte höchst schlampig (z.B. „s. Wikipedia 2007“) – aber ich biss auf den Granit einer Lehrerschaft, die den Kandidaten nicht durchfallen lassen wollte oder konnte. Es kam insgesamt ein „Gut“ heraus: für mich viel zu gut, aber ich hätte als Vorsitzender lediglich die Möglichkeit gehabt, die Note „auszusetzen“ und die Beurteilung an den Landesschulrat weiterzureichen. Das nächste Mal werd ichs vielleicht tun; ich hab auch nachträglich noch das Bauchweh, dass wir einem sicher sehr alerten, netten jungen Mann vorwissenschaftlich auf den Leim gegangen sind. Der junge Mann zeigte dann bei den mündlichen Prüfungen, wie redegewandt er war; er war offenbar Schulsprecher (oder so was) gewesen und er hatte die Lehrerschaft hinter sich.

Die schriftlichen Arbeiten

Zu den schriftlichen Themenstellungen ist nicht viel zu sagen. Hier ist zwischen der „neuen“ Matura und der „alten“ bei uns kaum ein Unterschied. Bei den zentralen Themenstellungen passierten keine groben Fehler; die Aufgaben in D, E und M waren im Großen und Ganzen nachvollziehbar. Sie unterschieden sich auch nicht wesentlich von den bei uns gestellten: unsere LehrerInnen am Abendgymnasium haben die neuen Prüfungsformate „drauf“; unsere Reifeprüfungen sehen wie zentrale aus, sind aber vor Ort erstellt.

Ich konnte gut nachvollziehen, wie die LehrerInnen die zentral gestellten Aufgaben benotet haben. Ich habe in Deutsch 3 Notenverbesserungen vorgeschlagen (je einmal von 5 auf 4, von 4 auf 3, von 3 auf 2), die von der Deutschlehrerin gerne akzeptiert wurden. Ich konnte erkennen, inwieweit auch bei einer zentral gestellten Mathe-Matura Unterschiede im Bereich der Bewertung möglich sind, obwohl die Beurteilungsschlüssel des Ministeriums relativ klare Vorgaben geben. Ich hätte bei einer Arbeit einen nicht gegebenen Punkt gegeben und einen gegebenen nicht. Also „wurscht“.

Es gibt natürlich auch bei einer zentralen Reifeprüfung in Mathe immer wieder Grenzfälle, und es gibt Schulen, in denen beschlossen wird, dies und jenes als Grenzfälle zu sehen und so oder so zu behandeln. Wo das vorkommt, ist es grenzwertig und fordert eine genaue Kontrolle. Es geht nicht an, dass eine Schule (ein Direktor) entscheidet, welche mathematische Lösung als richtig gilt und welche nicht.

Die Kompensationsprüfungen

Kompensationsprüfungen sind neu: sie dienen dazu einen schriftlichen 5er zu kompensieren. Früher bzw. im „alten“ Modell geschah bzw. geschieht das durch mündliche Prüfungen, aber die Idee hinter den Kompensationsprüfungen ist, dass man negative schriftliche Leistungen nicht durch mündliche Leistungen kompensieren kann, weil es da um andere Leistungsbereiche gehe.

Ich habe die Kompensationsprüfungen nicht an der Schule erlebt, in der ich Vorsitzender war, denn der Landesschulrat hatte für die gesamten Kompensationsprüfungen der Schule einen anderen Vorsitzenden eingeteilt. Wohl aber konnte ich die Kompensationsprüfungen in meiner eigenen Schule sehen, denn die Berufsreifeprüfung, die wir gleichzeitig durchzuführen hatten, hatte einige schriftliche 5er verzeichnet.

Die Kompensationsprüfungen werden zentral gestellt. Sie sollen ja schriftliche Kompetenzen überprüfen. Das führt zu administrativen Problemen. Jeweils eine Tranche von 5 KandidatInnen bekommt die gleichen Prüfungsaufgaben. Die werden vom Ministeriumsserver heruntergeladen. Die KandidatInnen sind von einander zu trennen, denn sie müssen ja dieselben Aufgaben bearbeiten. Die Prüfungen finden aber „seriell“ statt: bereits geprüfte KandidatInnen dürfen also mit KandidatInnen in der Vorberitung nicht mehr zusammenkommen. Es entsteht eine Art Prüfungs- bzw. Vorbereitungsquarantäne. Alle KandidatInnen der gleichen Tranche kommen in einen Vorbereitungsraum. Der / die erste beginnt mit der Vorbereitung; die anderen schauen derweil zu. Nach draußen dürfen sie nicht, denn sie dürfen den bereits Geprüften nicht begegnen. ???

Trotzdem entstehen natürlich auf der Basis der schriftlichen Vorbereitungen der KandidatInnen letztlich mündliche Prüfungsgespräche. Und ich habe sehr genau gesehen, wie sehr ein mehr oder weniger entgegenkommender Prüfer Auswirkungen hat. 6 der 10 Kompensationsprüfungen bei uns endeten positiv. Wenn man strenger (oder bloß „genauer“) geprüft hätte, hätte man alle als negativ werten können.

Es zeigt sich meines Erachtens, dass das Konstrukt Kompensationsprüfung ein Unding ist. Es stellt etwas als quasi-schriftlich dar, was letztlich eh mündlich abläuft. Es konstruiert unsinnige Prüfungsszenarien. Und es ist an sich fragwürdig, denn letztlich kann mir niemand erklären, warum ein Mangel an schriftlichen Kompetenzen (wenn er denn wirklich durch einen schriftlichen 5er valide genug festgestellt worden ist) nicht durch mündliche Kompetenzen ausgeglichen werden kann. Die Kompensationsprüfung ist nicht Fisch nicht Fleisch, nicht mündlich und nicht schriftlich, sondern irgendwie beides. Sie ist das Ergebnis einer allzu formalistischen Fehlplanung. Kehren wir zum „alten“ Modell zurück: mündliche Prüfungen sollen schriftliche 5er kompensieren können. Ganz offiziell, nicht bloß versteckt.

Die mündlichen Prüfungen

Rein äußerlich sind die „neuen“ mündlichen Reifeprüfungen von den „alten“ kaum zu unterscheiden. In der Regel eine halbe Stunde Vorbereitungszeit und dann eine Viertelstunde Prüfungszeit – mit geringen fachabhängigen Unterschieden. Für die „alte“ Matura hatten die KandidatInnen mit den PrüferInnen in den Wochen vor der Matura ein „Spezialgebiet“ zu vereinbaren. Die „alte“ Matura stellte dann 3 Fragen: eine zum Spezialgebiet und 2 „Kernstofffragen“, von denen eine zu wählen war. Pro Frage war damit etwa 15 Minuten Vorbereitungszeit gegeben und etwa 7-8 Minuten Prüfungszeit. Beide Fragen – die Spezialfrage und die gewählte Kernstofffrage mussten positiv beantwortet werden.

Die LehrerInnen mussten also für alle ihre KandidatInnenn jeweils eine Spezialfrage und 2 Kernstoffragen formulieren. Bei einem Kandidaten also 3 Fragen. Bei 10 Kandidatinnen also 30 Fragen. Das machte man als Lehrer locker für den jeweiligen Prüfungstermin in der Woche vor der Matura.

Die „neue“ Matura sieht keine Spezialgebiete mehr vor. Aber die LehrerInnen müssen den Prüfungsstoff abhängig von der Stundenzahl des Fachs in Teilgebiete einteilen. Die KandidatInnen ziehen dann 2 Teilgebiete und wählen davon eines. Die prüfenden Lehrpersonen müssen dann für jedes Teilgebiet zwei Fragen zur Verfügung haben: sie wählen nach der Wahl der KandidatInnen eine Frage aus. (Die muss dann evtl. noch für die gesamt Kommission kopiert werden und führt zu einer kurzen Verzögerung im Prüfungsablauf, denn man wird für x Themengebiete nicht jeweils 2 Fragen für die Kommission zur Verfügung haben.)

Die Lehrenden müssen also für jedes Teilgebiet mindestens 2 Fragen haben. Bei 10 Teilgebieten also 20 Fragen. Bei 18 Teilgebieten 36 Fragen. Aucn wenn es nur eine Kandidatin gibt. Deshalb werden die LehrerInnen diese Fragen auch nicht mehr für den konkreten Prüfungstermin formulieren – für den Kandidatin / den Kandidaten geht es sowieso nicht mehr. Ich sah das auch bereits an den Fragen: das Schuljahr war in den meisten Fragenformulierungen gar nicht ausführlich genannt, sondern wurde händisch eingesetzt.

Es werden sich Fragenkataloge entwickeln, die von fleißigen LehrerInnen auch immer wieder erweitert werden und von nicht ganz so fleißigen LehrerInnen unverändert weitergeführt werden. Ja, das hat etwas von „standardisiert“. Die Fragen selbst sind natürlich Fragenbündel und fallen im Schnitt vielleicht etwas umfangreicher aus als die „alten“ Kernstofffragen, denn es geht ja darum, mit einer „Frage“ 15 Minuten Prüfungszeit und 30 Minuten Vorbereitungszeit zu füllen.

Zum Zeitplan:

So sieht ein Teil des Zeitplans bei mündlichen Reifeprüfungen aus der Sicht eines Vorsitzenden aus:

Zeit Prüf-Nr. Vorgang Fach
15:02 4 Beginn Vorbereitung E
15:03 2 Ende Prüfung KM
15:03 5 Themenwahl Rk
15:03 6 Themenwahl KM
15:04 5 Beginn Vorbereitung Rk
15:05 6 Beginn Vorbereitung KM
15:06 3 Beginn Prüfung E
15:11 3 Ende Prüfung E
15:12 4 Beginn Prüfung E
15:17 3 / 4 Themenwahl E
15:17 4 Ende Prüfung E
15:19 3 / 4 Beginn Vorbereitung E
15:21 3 / 4 Beginn Prüfung E
15:31 3 / 4 Ende Prüfung E
15:31 7 Themenwahl Rk
15:34 5 Beginn Prüfung Rk
15:36 7 Beginn Vorbereitung Rk
15:49 5 Ende Prüfung Rk
15:49 8 Themenwahl IV
15:50 6 Beginn Prüfung KM

Innerhalb einer Stunde sind da ca. 20 administrative Schritte zu verwalten. Themenwahl, Vorbereitungsbeginn, Prüfungsbeginn, Prüfungsende. Und so weiter. Das geht bis auf Minuteneinheiten. Man sollte nichts übersehen – und deshalb wird es echt schwierig, sich auf den Inhalt der Prüfungen zu konzentrieren. Mir ist das im Verhältnis zum geradezu „gemütlichen“ 15-Minuten-Rhythmus bei unserer „alten“ Matura aufgefallen: ich hätte als Vorsitzender sehr gern mehr von den Prüfungen mitbekommen, aber das war kaum möglich. Hier gibt es m.E. Verbesserungspotenzial.

Als Vorsitzender einer „neuen“ mündlichen Reifeprüfung wirst du zum Zeitnehmer und Zeitrichter. Inhaltliches Mitdenken ist kaum mehr möglich und wird offensichtlich auch nicht mehr erwartet. Klar: wenn ein Zweck der zentralisiert-standardisierten Reifeprüfung die Loslösung der Prüfungsbewertung von lokalen Verhältnissen sein soll, dann darf es keine Rolle spielen, ob man einen „angenehmen“ und „netten“ oder einen „strengen“ Vorsitzenden hat.

Es spielt natürlich trotzdem eine Rolle. Ich bekam im Rahmen der  Maturafeier sowohl von Eltern als auch von den MaturantInnen selbst für meine Vorsitzführung äußerst positive Rückmeldungen. („Unsere Tochter ist ein Fan von Ihnen.“) Ich hab zunächst nicht begriffen wieso, denn ich habe als Vorsitzender durchaus manchmal Fragen gestellt, die nicht planbar waren. Ich hab gehört, dass meine Fragen z.B. zu den Musikprüfungen als extrem kompetent aufgefasst worden seien.

Ich seh das nicht so, so kompetent waren meine Fragen wirklich nicht. Sie waren in der Regel auch recht kritisch. Aber tatsächlich habe ich versucht, auf die Ausführungen der SchülerInnen einzugehen. Ich hatte mir die Fragen nicht schon vorher zurechtgelegt, sondern habe im Rahmen des noch Möglichen den KandidatInnen zugehört.

Und außerdem habe ich alle „meine“ MaturantInnen schon nach den VWA-Prästentationen mit Namen gekannt. Ich konnte sie alle schon im Vorraum mit Namen ansprechen. Ich habe die KandidatInnen (zwar freundlich aber) konsequent gesiezt – das waren sie offensichtlich nicht gewohnt und haben das geschätzt.

Kann man Schlüsse ziehen?

Die „neue“, zentralisiert-standardisierte Matura ist nicht schwerer als die „alte“, eher leichter. Sie reduziert allerdings den Einfluss der PrüferInnen massiv. Insofern ist sie ein Schritt vorwärts, denn es hat natürlich immer wieder Missbrauch gegeben. (Wir kennen alle die Gschichtln von Lehrerinnen, die ihren Schülern die Fragen schon vor der Reifeprüfung mitgeteilt haben. Wir kennen die Gschichtln von den Lehrern, die ihre Schülerinnen die Fragen in den Vorbereitungsstunden selbst formulieren ließen.)

Trotzdem gibt es im Rahmen der neuen Reifeprüfung sinnvolle und sinnlose Teile. Sinnvoll erscheinen mir die Vorwissenschaftlichen Arbeiten an sich, obwohl derzeit noch ein ziemliches administratives Brimborium um sie herum aufgezogen wird. Sinnlos und am Thema vorbei sind für mich die sog. Kompensationsprüfungen. Sie sind administrativer Ballast, der überhaupt nichts bringt. Sie sind das Ergebnis eines riesigen Missverständnisses des Begriffs Kompensation. Sinnvoll erscheint mir ein relativ klarer Katalog an Kompetenzen, die schriftlich geprüft werden: in Deutsch, Englisch, Mathe. Auf diese Art und Weise ist sichergestellt, dass LehrerInnen nicht zu sehr in „Steckenpferde“ abgleiten, wie das manchmal vielleicht vorgekommen sein mag. Die schriftlichen Reifeprüfungen werden auch für die Lehrenden nicht schwerer: man weiß, wohin man arbeiten muss.

Ich sehe allerdings in der „neuen“ Matura die Gefahr, dass der Stoff ein zu behandelndes Minimum schrumpft, dass interessante Nebengleise nie mehr befahren werden, weil allen – SchülerInnen und LehrerInnen – das Hauptgleis natürlich näher liegt. Denn warum soll ich mich auf eine „Kür“ vorbereiten, wenn es eine klar umrissene „Pflicht“ gibt, über die hinaus nicht geprüft wird? Reicht die VWA als „Kür“?

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