Ein Video irritiert
Über einen Bericht im ORF bin ich auf die web site www.null-toleranz.at aufmerksam geworden. „Null Toleranz“? „Welche hirnverbrannten Idioten sind da wieder an die Öffentlichkeit gegangen?“, hab ich mir gedacht. Aber es sind nicht irgendwelche „hirnverbrannten Idioten“: wie aus dem Impressum der Seite hervorgeht, ist das eine Seite der ÖVP:
Man muss vielleicht noch etwas differenzieren. Im sozusagen „Kleingedruckten“ wird noch erläutert:
Also nur „null Toleranz“ für all jene, „die unsere freie Gesellschaft ablehnen“.
Heißt das auch „null Toleranz“ für alle, die in „unserer freien Gesellschaft“ Mängel erkennen und diese Gesellschaft verbessern wollen? Ich fürchte ja. Es soll alles so bleiben, wie es ist, denn so ist es gut. Aber ich glaube, das stimmt nicht.
Was heißt „Toleranz“?
Toleranz heißt in etwa „ein Gewährenlassen und Geltenlassen anderer oder fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten.“ Nicht gemeint ist da eine Zustimmung zu fremden „Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten“; nicht gemeint ist da auch Gesetzeslosigkeit; es geht um „Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten“, die innerhalb der Gesetze eines Staates zulässig sind. Wer tolerant ist, schließt aber nicht a priori aus, dass man unter Umständen aus anderen „Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten“ etwas lernen kann. Toleranz ist eine wesentliche Tugend oder Erkenntnis der Aufklärung. „Null Toleranz“ strotzt nur so vor Dummheit.
„unsere freie Gesellschaft“
Ich finde „unsere freie Gesellschaft“ im Prinzip recht gut. Aber ich sehe immer wieder Verbesserungspotenziale. Insofern lehne ich „unsere freie Gesellschaft“ als Versteinerung, als unveränderbar ab. Wir sind nicht am letzten Schluss der Weisheit angekommen.
Unsere Gesellschaft ist oft ungerecht; sie bevorzugt Reiche – auch solche, die ohne eigene Arbeit reich geworden sind – und benachteiligt Arme – auch solche, die ohne eigene Schuld arm geworden oder geblieben sind. Wir haben einen Sozialstaat, aber wir müssen immer wieder um seine Weiterentwicklung kämpfen.
Ein irritierendes Video
In einem Video, das derzeit auf der Stirnseite von null-toleranz.at zu sehen ist, geht es um Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan. Ein junger Mann doziert in die Kamera, Kanzler und Parteiobmann Stocker kommt zu Wort, Innenminister Karner wird gelobt. Der Sukkus des Videos ist „Wir wollen abschieben“; Differenzierung gibt es im Video keine.
Probleme mit Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan werden ignoriert.
- Die sind einerseits rechtlicher Natur: Immerhin geht es dabei um den Umgang mit einer der wichtigsten Schutzbestimmungen des internationalen Asylrechts: dem völkerrechtlichen Non-Refoulement-Prinzip, das es Staaten verbietet, Personen in Länder abzuschieben, in denen ihnen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Asyl- und Völkerrecht sind also betroffen.
- Andrerseits gibt es politische Probleme: wer mit der afghanischen Regierung Abschiebungen vereinbart, erkennt de facto die Taliban als Regierung an – und das ist ein Regime, dessen Politik keine Anerkennung finden darf. Nirgends.
Die Seite null-tolerenz.at fordert eine „authentische“ Interpretation der Menschenrechtskonvention; was immer hier „authentisch“ heißt: das ist eine elegante Umschreibung ihrer Aufweichung.
Die Lehre
Die Seite null-toleranz.at ist ein ÖVP-Beitrag zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die ÖVP versucht hier, Positionen der FPÖ zu übernehmen. Sie hat noch nicht gelernt, dass das der FPÖ hilft. Österreich braucht für seine konservativen Wähler:innen eine Partei, die auf einer demokratischen Basis konservative Positionen vertritt.



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