Veröffentlicht in fiction

Die tote Managerin

„Schaust du dir das an? Oder soll ich?“ Mein Kollege warf mir den Untersuchungsauftrag auf den Schreibtisch.

Ich las mir die Sache durch. Ursula W., eine erfahrene Managerin, war auf einer Fortbildungstagung neben ihrer Thermoskanne plötzlich zusammengebrochen und gestorben. Bei der Obduktion hatten sich Giftspuren gefunden. Stechapfel. Irgendwer könnte sie vergiftet haben, es konnte im Rahmen der Fortbildung passiert sein. Wir sollten möglichen Motiven nachgehen. Mein Kollege übernahm das familiäre Umfeld der Toten, ich übernahm das berufliche.

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Ich besorgte mir eine Liste der Tagungsteilnehmer, eine Liste des Personals. Dazu noch die Daten über das Personal in der Abteilung der Toten.

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Frau W. war erst seit kurzem in den erlauchten Kreis der Spitzenmanager eines lokal gut verankerten Konzerns aufgenommen worden. Thema der Tagung waren Marketing und Öffentlichkeitsarbeit gewesen, Referent war Charlie F., ein relativ junger Mann, der hochgelobt war.

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F.? Charlie F.? Von ihm hatte ich schon gehört. Ich schaute mir seine home page an. Eigenartig: sie enthielt – nichts. Fast nichts: nur eine Mailadresse und einen Link. Die Mailadresse war die von F. selbst, der Link führte wieder auf die gleiche Seite, allerdings unter einer anderen Web-Adresse. Und dort wars gleich. Man konnte mit beiden Seiten Ping-Pong spielen, ohne irgend etwas Neues zu erfahren. Kein Verzeichnis der Schriften von F. Kein Verzeichnis von Referenzen. Keine abgewickelten Projekte. Nicht einmal ein Foto. Nichts.

Was hatte der Mann geleistet?

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Eine kurze Literaturrecherche ergab: er hatte einiges geleistet. Vor etwa 15 Jahren. Da musste er noch sehr jung gewesen sein. Gemeinsam mit einer recht bekannten deutschen Marketingkapazunderin hatte F. einiges publiziert. Dann hatten sich die Wege F.’s und der Deutschen offenbar getrennt. Seither verzeichnete das Web keine besonderen notierbaren Aktivitäten von F. mehr.

Aber in den Tagungen des Konzerns hatte sich F. verdient gemacht. Nein, reich war er nicht geworden, aber einen soliden Grundstock an Fortbildungen hatte er immer erledigt, das ließ sich nachlesen. Für einen angenehmen Lebensunterhalt musste es wohl gereicht haben. Wie viel zahlte der Konzern für eine zweitägige Schulung? Vermutlich mehr.

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In den nächsten Tagen klapperte ich einige Tagungsteilnehmer ab. Fingerabdrücke abzunehmen hatte keinen Sinn: es war nichts sichergestellt worden, denn an einen Mord hatte im Rahmen der Tagung niemand gedacht. Der Verdacht war erst nach der Obduktion gekommen. Aber ich fragte nach besonderen Vorkommnissen, nach bemerkenswerten Ereignissen. Aber die Antworten waren nicht besonders erhellend. Man sprach von einer sehr interessanten Tagung, ohne aber Bemerkenswertes zu erwähnen.

Auch F. selbst sah das so. Er hatte den Tagungsverlauf gut in Erinnerung. „Es war extrem interessant, mit Frau W. zu diskutieren“, sagte er mir. Sie habe ihn mit ihren Thesen aus der Marketingpraxis durchaus aus der Reserve gelockt. Er war tief betroffen über den Tod von W.

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Meinem Kollegen ging es  ähnlich. Auch das familiäre Umfeld der Toten gab nichts her. Keine besonderen Feinde. Keine Enterbungen. Niemand, der vom Tod über die Maßen profitierte. Alles sehr unverdächtig.

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Der Fall wurde nach einigen Wochen unaufgeklärt zu den Akten gelegt. Eine Art Unfall vielleicht. Vielleicht hatte „Hexe“ Ursula W. ihre Droge überdosiert.

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Dass die Tagung tatsächlich äußerst interessant gewesen war, fiel auch mir nicht auf. Ich bekam deshalb nicht heraus, dass sie vor allem interessant gewesen war, weil Ursula W. und Charlie F. sich in aller Höflichkeit mehrfach in die Haare geraten waren. Die alte Dame hatte den jungen Referenten in wohlgesetzten Worten heftig kritisiert – zunächst zum Gaudium der meisten Teilnehmer. Sie hatte ihm im Lauf der Tagung öffentlich nachgewiesen, dass die Literatur, die er verwendete, vor allem seine eigene und in den letzten 15 Jahren beträchtlich veraltete war. F. hatte versucht, W. einzubinden, hatte ihr recht gegeben, hatte ihre Einwände aufgenommen, hatte ihr zugestimmt. Er hatte sie geradezu „umarmt“, nur genützt hatte es nichts. Mit der Zeit wurde es dann auch anstrengend. W. gab eine sehr lästige alte Dame; F. war ein sehr armer junger Referent. Aber es war interessant, zweifellos, ein Schauspiel.

Dann war W. zusammengebrochen. Rettung, Krankenhaus, Exitus.

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Was ich ebenfalls nicht herausbekam: F. hatte Gefahr gerochen. Sein Brotberuf als Fortbildner im Konzern war ins Wanken geraten. Er war dabei, seinen Ruf zu verlieren und bekam Angst, sich neue Betätigungsfelder suchen zu müssen. Generaldirektor K. hätte ihn nicht mehr als einzigartige Marketing-Leuchte vorstellen können, wie er das sonst immer tat.

Das wollte F. nicht, das konnte er nicht. Nicht wegen einer Alten Dame fast wie von Dürrenmatt.

Doch es gab ja Stechapfel, Thermoskannen und Pausen.

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