Eine verhaltene Rede, die sich sehr um „Zuversicht“ bemüht.
Heute hat Präsident Alexander Van der Bellen die Bregenzer Festspiele eröffnet. Der ORF sieht „Van der Bellen mit Appell zur Zuversicht“; der Standard bringt die „Rede im Wortlaut“.
Das Problem ist: ich bemerke in der Rede nicht so viel Zuversicht wie der ORF, sondern durchaus auch Zukunftsskepsis. Und der „Wortlaut“ beim Standard stimmt nicht wirklich: offenbar hat der Standard ein Manuskript veröffentlicht, von dem Van der Bellen nicht ganz unwesentlich abgewichen ist.
Van der Bellen sieht im Wesentlichen 3 Modelle für die Zukunft: ein paradiesisches, ein apokalyptisches und ein – sagen wir – „schwieriges“. Das apokalytische Szenario – wir fahren die Welt in den Untergang, an die Wand – hält er für etwas wahrscheinlicher (!) als das paradiesische. Am wahrscheinlichsten ist für den Präsidenten das „schwierige“:
die Zukunft wird turbulent, unvorhersehbar. Sie wird einmal gut und ein anderes Mal chaotisch verlaufen.
Ein wirklicher „Appell an Zuversicht“ ist das nicht.
Der Wortlaut der Rede
[transkribiert von mir, mb]
Excellencies! Ladies and Gentlemen! And a very special welcome to our guests from Finland.
Ja, meine Damen und Herren, Sie geben mir auch noch fünf Minuten. – Gut, ein ausdrückliches Ja war das jetzt nicht.
Denn nämlich nach Ödipus zu sprechen ist heikel. Sein Schicksal, wo er aus der Spitze seiner Karriere, wenn man so will, gleichzeitig seine finale Niederlage erleidet. Das hat mich ein bisserl an meine Rede erinnert. Teilweise.
Vizekanzler Babler hat schon erwähnt, dass die liberale Demokratie unter Druck steht. Wörtlich hab ich mir das Gleiche notiert. Es scheint, als wäre – global betrachtet – nicht der Rechtsstaat, sondern das Recht des Stärkeren auf dem Vormarsch. Es scheint populärer zu werden, Demokratie als zu weich, zu langsam, zu kompromissorientiert zu halten und die Menschenrechte, die wir hart erkämpft haben und auf denen wir unseren erfolgreichen Kontinent Europa aufgebaut haben, werden in Frage gestellt. Dazu kommt, dass dieses Erfolgsmodell von vielen als dysfunktional angesehen wird, den einen zu bestimmend, den anderen zu unbestimmt, zu restriktiv wirtschaftlich, zu langsam, zu nachdenklich, zu verkopft, na zu europäisch eben. Dabei haben wir Europäer gemeinsam in den letzten Jahrzehnten großen Um- und Aufbruch friedlich und zum Wohle aller bewältigt und eine gemeinsame Basis entwickelt. Ich erinnere nur an die Finanzkrise vor 15 Jahren etwa.
Aber an dieser gemeinsamen Basis wird kräftig gerüttelt, von außen und von innen.
Ja, wir leben in interessanten Zeiten.
Die rasende technologische Entwicklung stellt uns vor die Frage: Treten wir ein in ein goldenes Zeitalter der artifiziellen Intelligenz, das uns alle reicher und glücklicher macht, oder glänzt dieses Gold nur für einige wenige Angehörige der technologischen Elite, einer recht überschaubaren Gruppe von Tech-Milliardären?
Wir leben in Zeiten bevorstehender, schwelender oder offener gewaltsamer Konflikte in vielen Winkeln der Erde: am Rande Europas, im Nahen Osten, in Teilen Afrikas. Spannungen, Auseinandersetzungen wo Sie nur hinschauen.
Wir leben in interessanten Zeiten. Und ungewissen Zeiten, was die Zukunft der Menschheit betrifft. Ein heißester Sommer der Messgeschichte jagt den nächsten, mit all den absehbaren und unabsehbaren Folgen für unsere Gesellschaften. So viele Krisen, könnte man sagen, man kommt ja gar nicht mehr nach mit dem Wegschauen. Ich kann nachvollziehen, wenn dieser Wunsch – „Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ – in China als Fluch verstanden wird. Ich habs nicht überprüft. Vielleicht stimmt das in China nicht.
Wenn ich hier in meiner Rolle als Bundespräsident [bin,] denk mir auch manchmal: wie lässt sich in all diesem Chaos noch irgendein Prinzip finden, an dem wir alle gemeinsam uns wieder aufrichten können und das uns hilft, Zuversicht zu entwickeln und den Mut die Dinge anzugehen. Eines dieser positiven Prinzipien finden wir passenderweise im Freischütz. Achtung! Spoileralarm! Nämlich: jeder Fluch lässt sich bannen. Und was für den Freischütz gilt, gilt auch für den Wunsch von den interessanten Zeiten. Auch dieser Fluch verliert an Kraft, wenn die konstruktiven Mächte sich sammeln, zusammenarbeiten.
Aber lassen Sie uns zunächst die Situation, die möglichen Szenarien skizzieren: wie kann es weitergehen?
Ein mögliches Szenario ist, dass alles nicht so schlimm wird. Dass alle Dinge, die sich gerade abzeichnen oder gerade passieren, sich wieder beruhigen, die Kriege auf wundersame Weise enden, die Menschen einander in die Arme fallen, und ein goldenes Zeitalter beginnt.
Nicht unmöglich. Auch nicht sehr wahrscheinlich.
Ein weiteres mögliches Szenario ist das Gegenteil: dass alles schiefgeht, was schiefgehen kann, dass wir auf eine Apokalypse zusteuern, die Welt in Flammen aufgeht und wir in einem phänomenalen Crash an die Wand fahren.
Auch nicht unmöglich. Auch nicht sehr wahrscheinlich. Aber vielleicht ein bisschen wahrscheinlicher als das erste Szenario.
Ich persönlich halte ein drittes Szenario für am wahrscheinlichsten: Die Zukunft wird weder paradiesisch noch apokalyptisch sein. Sie wird turbulent, unvorhersehbar; sie wird einmal gut und ein anderes Mal chaotisch verlaufen. Und in welche Richtung das Pendel ausschlägt, können wir alle mitbestimmen. Wenn wir die Realität anerkennen, können wir sie aktiv gestalten – und die Hoffnung behalten.
Anstatt uns in Alltagsflucht oder Schreckensszenarien zu verlieren, lassen Sie uns die Dinge ruhig und entschlossen anpacken. Und so zu einem Mindset finden, das uns in die Zukunft führt. Aber was meine ich damit?
Erstens: Akzeptieren wir die Welt, wie sie ist, und leben wir damit. Sehen wir die Realität nicht so, wie wir sie sehen wollen, wir wir sie haben wollen. Und auch nicht so, wie wir sie fürchten. Sehen wir sie, wie sie ist. Erst dann können wir möglichst effektiv und ruhig tun, was zu tun ist. Wir müssen der Ungewissheit mit innerer Klarheit und auch einer gewissen Entschlossenheit begegnen.
Zweiter Punkt: Hören wir nicht auf zu lernen. So schnell, wie die Welt sich verändert, hilft uns statisches Wissen nicht oder nur sehr bedingt. Wir müssen vielmehr eine unstillbare Neugier kultivieren. Nach kontinuierlicher Weiterentwicklung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten streben. Zukunftskompetenzen erfordern den Mut anzuerkennen, dass Bildung nie abgeschlossen ist.
Und drittens: Lassen Sie uns beweglich bleiben. So anstrengend es ist, wir dürfen uns nicht ausruhen auf dem, was wir schon erreicht haben. Auch wenn es viel ist. Wir können unseren Status nur erhalten und ausbauen, wenn wir jeden Tag etwas tun für ihn.
Diese drei einfachen, simplen Prinzipien – anerkennen, was ist; lebenslang dazulernen und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln – werden uns helfen, die Zukunft zu navigieren und selber – das ist mir wichtig – selber zu bestimmen, wohin die Reise geht, und sie nicht von anderen bestimmen lassen.
Meine Damen und Herren, wollen Sie, wollen wir, dass sich in einer Herrschaft der wenigen über die vielen das Geld, die Technik, die Macht in einem kleinen elitären Kreis konzentriert, oder wollen wir in einer offenen Gesellschaft von Freiheit, Gleichheit – früher hat es geheißen: Brüderlichkeit – hm, und Geschwisterlichkeit leben?
Wollen wir in einem Europa leben, das nicht für seine eigene Sicherheit garantieren kann und deshalb als schwach und steuerbar wahrgenommen wird? Oder wollen wir, dass unser Kontinent souverän ist, digital souverän und auch sicherheitspolitisch souverän?
Warum starten wir nicht ein Projekt wie Airbus seinerzeit, das ein wahres paneuropäisches Projekt gewesen ist und ist und eine unglaubliche Erfolgsgeschichte? Warum zum Beispiel nicht ein großes europäisches Eisenbahnprojekt, mit dem Ziel, die europäischen Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitszügen zu verbinden? Haben wir nicht, wir habens nicht. Wir haben national, aber nicht transnational. Warum nicht ein gemeinsames, europäisches Rüstungsprojekt?
Wenn wir schon mehr in unsere Verteidigung investieren müssen, und das müssen wir, dann bitte doch kooperativ und groß gedacht. Warum nicht ein solches gemeinsames europäisches Projekt auch in der digitalen Welt beginnen?
Warum sollten wir nicht fähig sein, eine europäische KI zu bauen? Ein digital souveränes Europa zu werden? Ist es nicht an der Zeit, unsere eigenen Stärken anzuerkennen und zu sehen, dass wir ein mächtiger Wirtschaftsraum Europa sind? Und als solcher Verhandlungsmacht haben und diese auch konsequent ausspielen können?
Ist es nicht an der Zeit, stolz zu sein, auf das, was wir in Europa erreicht und erkämpft haben? Ein unvergleichlich großartiges, strahlendes Friedensprojekt. Das ist eine zivilisatorische Großtat, die wir verteidigen sollen! Außerhalb Europas beneiden uns viele dafür.
Meine Damen und Herren: Ja, wir leben in interessanten Zeiten. Es liegt an uns allen, dass wir dieses Wort „interessant“ positiv lesen: als stimulierend, anregend, fordernd, aber letztlich etwas, das uns dazu bringt, etwas Neues zu lernen über uns und die guten Seiten der Menschheit, des Menschseins. Zu diesen guten Seiten gehört mit Sicherheit Kunst und Kultur. Festspiele, wie wir sie hier in Bregenz haben, haben einen enormen Wert für unser Land, nicht nur ökonomisch. Und ich wünsche der neuen Intendantin, Lilli Paasikivi, toi, toi, toi für ihre erste Saison.
Herr Präsident! Ich eröffne hiermit die Bregenzer Festspiele! Mögen sie uns Freude, Inspiration und Zuversicht bringen!
Ich danke Ihnen!
(Alexander Van der Bellen, 16.7.2025)
Schreibe einen Kommentar zu Zwei „Nebensätze“ des Bundespräsidenten – michael bürkle Antworten abbrechen