Veröffentlicht in Bildung

„Fehlertoleranz“

In der Industrie versucht man, „fehlertolerante“ Systeme zu konstruieren. Man weiß, dass es bei allen Systemen (bei Hardware, bei Software, beim Benutzer) eine Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls (eines Fehlers) gibt und versucht, durch die Konstruktion paralleler Systeme insgesamt „Fehlertoleranz“ zu erreichen, also eine Situation, in der ein Fehler nichts ausmacht, weil er durch das Parallelsystem aufgefangen wird.

Auch ich habe mit Fehlertoleranz gute Erfahrungen gemacht, aber etwas anders.

1. Deutsch in der 3c bis 5c

In meinem letzten „normalen“ Gymnasium, dem BG Sillgasse in Innsbruck, bekam ich einmal eine erste Klasse in Deutsch. Irgendwie gelang es mir, das Vertrauen der jungen Leute in hohem Ausmaß zu bekommen. Ein Teil davon entstand wohl dadurch, dass ich jeden Deutsch-Aufsatz vierfach benotete: mit einer Inhaltsnote, einer Ausdrucksnote, einer „Note“ für Sprach- und Schreibrichtigkeit und einer Gesamtnote. (Dazu kam noch ein kurzes verbales Feedback.) Ja, diese Gesamtnote war manchmal ein „Nicht genügend“, und ein „Nicht genügend“ auf einen Text zu bekommen, tut weh. Texte sind Produkte des eigenen Geistes, sie sind dem Ich deutlich näher als (im Normalfall) Rechenergebnisse. Und 10-, 11-jährigen fällt es manchmal sehr schwer, zwischen einer Note für einen Text und einer Note für die eigene Identität zu unterscheiden. (Auch deutlich älteren Personen fällt diese Unterscheidung nicht immer leicht: „Die Frau Professor mag mich nicht“.) Aber mit meinen Noten war auch bei einem Gesamt-„5er“ immer – immer! – etwas Positives verbunden. Und es wurde klar, was im Text gut war und was nicht so gut, wo man daran arbeiten musste und was passte.

Ab der 3. Klasse, bis zur 5., nach der ich sie dann abgeben musste, weil ich die Schule wechselte, begann ich mit den 13-jährigen allmählich, ihre Texte auf der Lernplattform der Schule klassenintern zu publizieren und auszutauschen. Es entstand ein System, in dem in hohem Respekt (!) Texte gegenseitig öffentlich und nachvollziehbar diskutiert wurden. Ich gab immer Feedback als Lehrer, aber auch die MitschülerInnen schrieben über die Texte ihrer KollegInnen. Damit wurden Fehler ein produktives Element. Man konnte aus den Fehlern lernen, nicht nur aus den eigenen, sondern auch aus denen der anderen. Man konnte in vielen Fehlern auch gute Ideen erkennen, die man bloß ein bisschen anders formulieren musste. Man konnte erkennen, was für andere unverständlich oder nicht ganz verständlich war, für den Autor / die Autorin aber selbstverständlich.

Es entstand eine Fehlertoleranz in dem Sinn, dass man sich eines Fehlers nicht mehr schämen musste. Alle machen wir jeden Tag Fehler; Toleranz heißt (hier), das zu erkennen und zu akzeptieren – und trotzdem aus den Fehlern zu lernen, um sie nicht mehr zu machen. Das setzt freilich enormes Vertrauen in den Lehrer, die MitschülerInnen und letztlich in sich selbst voraus.

Ich habe mit dieser Klasse innerhalb von 5 Jahren ein sehr hohes Maß an Textqualität erreicht. Heute noch bin ich stolz auf das Ergebnis; die jungen Leute müssen heute um die Mitte 20 sein.

2. Maturaaufgaben

Wenn ca. 40 LehrerInnen für ca. 200 KandidatInnen ca. 400 Maturaaufgaben formulieren, geschehen Fehler. Da schleicht sich ab und zu ein Beistrichfehler ein; manchmal geht die Anweisung, eine Frage zu wählen, verloren. Manchmal entstehen durch unvollständige Umstellungen von Sätzen „Grammatikfehler“. Manchmal stimmt ein Datum nicht, und manchmal ist vielleicht auch ein Aufgabentext nicht optimal und gut verständlich formuliert. Maturaaufgaben sind komplexe Dinge.

Da sind Fehler völlig normal. Wir haben am Abendgymnasium Innsbruck einen sehr sorgfältig arbeitenden Lehrkörper, und trotzdem passieren diese Dinge. Ich habe leider (?) ein sehr fehlersensibles Auge. Ich bin ausgebildeter Deutschlehrer und kenne die Regeln der deutschen Sprache sehr gut. Ich bin ausgebildeter Mathelehrer und habe daher immer wieder mit Logik zu tun. Ich bin Informatik-Lehrer und hab mich da auch früh mit Typografie beschäftigt und weiß, was im Druck üblich ist und kenne z.B. die Unterschiede zwischen einem Binde- und einem Gedankenstrich. Ich habe an der Uni jahrelang äußerst komplexe Texte für Publikationen lektoriert. Ich weiß, dass man manche Fehler am Bildschirm schlecht sieht, aber am Papier besser und dass es also bei längeren und komplexeren Texten einer „Korrekturfahne“ bedarf. Mir fallen Fehler und Fehlerchen sehr schnell auf – und sie stören mich, auch wenn ich mir oft sicher bin, dass ich im konkreten Kontext fast der einzige sein werde, der den Fehler bemerkt.

Als Direktor hab ich meine Kolleginnen und Kollegen gebeten, mir die mündlichen Maturaaufgaben 4 Arbeitstage vor Prüfungstermin zu geben, damit ich sie durchschauen kann. Die meisten haben dieses Feedback-Angebot angenommen, nur wenige nicht. Ich habe manche Fehler und Fehlerchen gefunden und wir haben sie ausgebessert. Insgesamt sind nicht viele übrig geblieben; die Aufgabenstellung hat insgesamt einen ganz guten, sehr soliden Eindruck hinterlassen, denke ich.

Ich maße mir nicht an, alles zu finden: ich bin in Chemie und Französisch fachlich beinahe eine Null und tu mir in Biologie manchmal schon sehr schwer. (Die Biologie heute ist mit der „Naturgeschichte“, die ich vor 45 Jahren gelernt habe, nicht zu vergleichen. Physik, Geographie, Geschichte, Philosophie, Religion und Englisch gehen halbwegs.)

Und selbstverständlich mache ich selbst auch Fehler. Ich habe z.B. in einem Textausschnitt aus „Homo faber“ einen „Fehler“ entdeckt, der keiner war. (Der Ausschnitt stimmte: das war im Original so drin!)

Ich habe sehr viel positives Feedback zu meinen Feedbacks bekommen. Sehr viele KollegInnen haben sich für die Durchsicht der Aufgaben explizit bedankt. Einer hat vom Luxus eines kostenlosen Lektorats gesprochen. Freilich werden manche vielleicht auch die Augen verdreht haben, ohne dass ich das sehen konnte.

Ich glaube, wir haben „Fehlertoleranz“ erreicht – im Sinn, dass wir wissen, dass Fehler etwas Selbstverständliches sind, dass jeder und jede welche macht, dass man sich ihrer nicht genieren muss – und dass es trotzdem nicht egal ist, ob sie da sind oder nicht, sondern dass sie verbessert gehören und man aus ihnen lernen kann.

Das wäre ein Optimum.

Toleranz heißt nicht, dass uns etwas egal ist. Aber dass wir versuchen, es zu verstehen und an ihm zu lernen.

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[…] sie nicht wieder vorkommen. nur so wird man (als institution) immer besser. in diesem sinn habe ich fehlertoleranz in meinem blog schon einen beitrag […]

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[…] 3 Jahre lang an Texten „öffentlich“ gearbeitet – ich habe in einem Artikel über Fehlertoleranz darüber […]