Veröffentlicht in Bildung

Noch einmal „Vorlesung in der Schule“

Schulintern hat mein Blog-Beitrag zum Schreiben von Frau Minister Hammerschmid auch eine interessante Diskussion ausgelöst.

Am Donnerstag schreibt ein Kollege:


Liebe KollegInnen,

Michael hat die Diskussion bzgl. Vorlesungen eröffnet und ich möchte sie von meiner Seite aus kurz weiterführen. Michael, könntest du bitte deine Gedanken aus deinem Blog hier noch einmal wiedergeben?

Als ich den Vorschlag von Frau Hammerschmid las, wir sollen selber entscheiden können, ob wir eine Vorlesung zu einem bestimmten Thema halten wollen, dachte ich, geniale Idee, genau das ist es. Ich habe z. B. schon öfter daran gedacht in Physik 3 zusammen mit einem oder mehreren Parallelkursen eine kleine Vorlesung über die Spezielle Relativitätstheorie zu halten, um dann in Kleingruppen vertiefend diskutieren und praktische Beispiele rechnen zu können.

Warum eine Vorlesung?

Gerade die Relativitätstheorie ist so komplex, verblüffend, umwälzend und intellektuell anspruchsvoll, dass es sich lohnt, darüber etwas länger, z. B. mehrmals 90 Minuten zu referieren. Das muss nicht zwingend in jedem Modul gesondert geschehen sondern kann auch gebündelt für unsere jetzigen 4 Module in Form einer Vorlesung stattfinden. Warum muss diese längere theoretische Abhandlung in vier verschiedenen Modulen parallel ablaufen und nicht auf einmal für alle?

Vorteil: Schonung von Werteinheiten, wenn statt 4×90 Minuten 1×90 Minuten für alle referiert wird.

Nachteil: organisatorisch eine Herausforderung, nicht nur die Räume betreffend. Auch die eingesparten 270 Minuten sind zunächst ja nur auf der Lehrerseite vorhanden und müssten dann auf die Studierendenseite umgelegt werden.

Nach dieser Vorlesung muss die Theorie in Kleinguppen oder im normalen Unterricht anhand von diversen Gedankenbeispielen, Diskussionen und Rechnungen vertieft werden. Dazu ist ein Modul wie derzeit bei mir in Physik 3 mit 25 Studierenden oft zu groß und ich könnte genau die Lehrpersonen als Unterstützung gebrauchen, die vorher bei der Vorlesung nicht anwesend waren.

Vorteil: Arbeiten in Kleingruppen mit mehreren KollegInnen als Unterstützung möglich.

Nachteil: organisatorisch eine Herausforderung, siehe oben.

Ich kann jedenfalls hinter einer Vorlesung weder ein extremes Beispiel, noch Realitätsferne erkennen und auch keine Relativierung in Frau Hammerschmids Antwort auf den Blog. Organisatorisch ist es sicherlich schwierig, andererseits gibt es das Konzept ja schon seit Ewigkeiten an den Universitäten mit der Dreiteilung Vorlesungen, Übungen und Tutorien, bei der die Gruppengröße jeweils abnimmt von z.B. 300 auf 15 Studierende. Ich habe sowohl diese Reihenfolge als auch die Vorlesungen an sich immer großartig gefunden und könnte sie mir auch an einer Schule für Erwachsene mit einer Studierendenhöchstzahl von z.B. maximal 50 Studierenden pro Vorlesung gut vorstellen.

Übrigens stand in der Presse am Sonntag vom 23.10. eine sehr interessante Doppelseite über die neue Schulautonomie. Dort haben sich DirektorInnen aus Wien sehr positiv zu Vorlesungen geäußert.

Vg, [Name]


Das wurde noch etwas verstärkt durch ein posting einer Kollegin 2 Stunden später:


Voll interessant! Ich hab auch gedacht, ich wüsste noch gern, warum Vorlesungen keine Option sind.
LG

[Name]


Offenbar ist die Ablehnung oder die Annahme der Antiquiertheit des Modells Vorlesung nicht ganz so einhellig, wie ich gedacht hatte. Ich habe dann geantwortet:


liebe kollegInnen,

ja, sehr interessante diskussion!

ich sehe 2 aspekte: einen didaktisch-inhaltlichen und einen formal-organisatorischen

1. didaktisch-inhaltlich:

definieren wir, was wir unter „vorlesung“ verstehen. ich würde vorschlagen „lehrerInnen-vortrag über längere unterrichtsphasen, gestützt auf schriftliche unterlagen (egal ob „vorgelesen“ im engeren sinn oder relativ frei „vorgetragen“); nicht unterbrochen durch andere arbeitsphasen wie gruppenarbeit, projektarbeit etc.“

ich glaube, das ist eine antiquierte methode. das steht auch in meinem blog (https://www.buerkle.work/vorlesungen_schule/). ich habe das der ministerin auch per mail geschrieben (text s.u.). die wenigsten der heutigen schülerInnen (in den normalen schulen) oder unserer studierenden haben die aufmerksamkeitsspanne, stundenlangen vorträgen über anspruchsvolle inhalte aufmerksam folgen zu können. nicht in valenzgrammatik, nicht in relativitätstheorie, nicht in zellfunktionen. es ist aber auch nicht nötig. es gibt heute technische mittel, komplexe inhalte in sprachlich guter form vor- und aufzubereiten und vorab! zur verfügung zu stellen. man muss sie dann nicht mehr „vorlesen“, sondern kann dann über sie sprechen (und diskutieren); das ist dann keine „vorlesung“ mehr und geht nicht mit 50 studierenden. dass es an der uni tatsächlich noch „vorlesungen“ gibt, halte ich für einen beweis der didaktischen zurückgebliebenheit der universität. ja, manche uni-profs kennen halt nix anderes, haben sich nie mit etwas anderem beschäftigt. ich hab diesbezüglich eindrucksvolle erfahrungen gesammelt.

ich glaube, die „vorlesung“ im o.a. sinn ist eine überholte methode. wir müssen vortrag, übung, experiment, diskussion usw. mischen, und zwar sozusagen „immer“. das ist aber kein argument gegen den vortrag an sich.

2. formal-organisatorisch

wenn wir in einem fach eine vorlesung für 50 planen wollen und dann 5 kleingruppen zu 10 wird das stundenplantechnisch – naja – „anspruchsvoll“. stellen wir uns vor, wir haben eine „vorlesung“ valenzgrammatik oder relativitätstheorie über 4 doppelstunden. das ist dann ein teil eines moduls D2 oder Ph3. das wäre (als eigenständiges modul) nicht einmal einstündig; einstündig müssten es ca. 20 stunden sein. dazu bzw. daneben müssten wir im stundenplan dann die kleingruppen vorsehen. wenn parallel, als unterstützung, dann an einem anderen, zusätzlichen ort im stundenplan, wenn darauffolgend u.u. auch am gleichen ort im stundenplan.

an der uni wird das so gelöst, dass das 2 verschiedene lehrveranstaltungen werden – die vorlesung und die übungen dazu. könnten wir auch machen. wir teilen ein D-, E- oder Ph-modul in einen vorlesungsteil (D2v, E5v, Ph3v, jeweils z.b. 1-stündig oder halbstündig) und in zusätzliche – naja – „praxismodule“ auf. einfach ist das im stundenplan nicht, und ich sehe die gefahr, dass die „übungsmodule“ schnell schlechter bezahlt werden als die theorie-vorlesungs-module. nötig ist dazu eine intensive kooperation der lehrenden, denn ich muss ja wissen, was die kollegin in der „vorlesung“ wie besprochen hat. (an der uni kein problem: die vorlesung hält „der prof“, die übungen „die assistenten“; die haben sich nach dem prof zu richten.)

tatsächlich schwebt mir schon lange vor, mehrstündige module in mehrere kleine zu teilen und die getrennt zu führen. M4 besteht z.b. aus 2 inhaltlich relativ klar trennbaren teilen. das könnte man auftrennen und getrennt belegbar machen. das könnte man auch so machen, dass diese voneinander formal unabhängigen kurse nacheinander unterrichtet werden (was ja de facto eh passiert). wir hätten damit nicht mehr nur das semester als planungszeitraum, sondern kürzere planungsrahmen, z.b. ein halbsemester. (das ist übrigens auch ein merkmal / eine stärke des finnischen bildungssystems. man macht nicht ein semester M4, sondern belegt z.b. einen 4-wochen-kurs „trigonometrie“. da werden die rückmeldezeiträume sehr viel kürzer; die studierenden sehen schnell, ob das passt oder nicht).

das ist jetzt aber ziemlich unabhängig von der frage nach der didaktik. auch in kürzeren planungsrahmen muss man arbeitsmethoden wechseln können, weil das wichtig für die studierenden ist.

ich kann mir gut vorstellen, vorsichtige schritte in die thematische auflösung von modulen zu machen. gesetzlich ist das derzeit zwar kaum gedeckt, aber vielleicht bringt uns die schulautonomie da was. ich hab dann kein modul Ph3 mehr, sondern ein modul „relativitätstheorie“. oder ein modul „relativitätstheorie – theorie / vorlesung““ und dazu module „relativitätstheorie – übungen / diskussion“. daneben gibt es dann im ehemaligen bereich von Ph3 noch andere module. ähnlich in D, E, M, GWK, Ch, GSP etc. wir verlangen dann von unseren maturantInnen nicht mehr die absolvierung von (z.b.) D4, sondern von einem kurs über valenzgrammatik, einem kurs über medien, einem kurs über die literatur von — wie eben an der uni.

das ist aber nicht von heute auf morgen möglich und ich habe (als direktor) da keinen ehrgeiz, das übers knie zu brechen. es wäre damit auch die selbständige führung von eher theoriegeleiteten fächern möglich. aber noch einmal: ich glaube nicht, dass schülerInnen und studierende des 21. jahrhunderts für längere frontalunterrichtsveranstaltungen disponiert sind.

lg
m

PS: mein brief an die ministerin vom montag:

Sehr geehrte Frau Minister!

Ich teile Ihnen mit, dass ich über Ihren Vorschlag, im Schulunterricht
„Vorlesungen“ auch vor Großgruppen durchzuführen, höchst irritiert bin.
Ich schätze Ihre Arbeit an sich und ersuche Sie um Konkretisierung und
biete Ihnen für Ihre Stellungnahme auch meinen Blog an.

Hintergrund: ich bin Lehrer für Deutsch, Mathematik, Informatik und
Vorwissenschaftliches Arbeiten am Abendgymnasium Innsbruck. (Ab 1.11.
bin ich mit den Agenden der Direktion betraut.) Gestern habe ich Ihren
Brief betreffend Autonomiepaket erhalten, in dem Sie erklären, dass
LehrerInnen „selbst entscheiden können [sollen], dass Sie z.B. vor einer
größeren Gruppe eine Vorlesung zu einem bestimmten Thema halten“.

Ich kenne viele KollegInnen, aber ich kenne niemanden, der in der Schule
„Vorlesungen“ hält. Vorlesungen sind eine völlig antiquierte Methode der
Wissensvermittlung; diese Methode gibt es in der Schule nicht mehr.
Moderner Unterricht entsteht aus dem Wechsel von Arbeitsphasen und
Arbeitsformen innerhalb jeder Schulstunde. Der Hinweis an LehrerInnen,
„Vorlesungen in größeren Gruppen“ zu halten, ist völlig welt- und
realitätsfremd.

Ich habe auf Ihren diesbezüglichen Vorschlag auch schon in meinem Blog
https://www.buerkle.work/vorlesungen_schule/ Bezug genommen. Ich biete
Ihnen Raum für eine Erklärung des Vorschlags. Sie können selbst posten
(lassen) oder mir eine diesbezügliche Stellungnahme übermitteln – oder
nichts tun.

Ich bin gespannt.

Mit freundlichen Grüßen
michael bürkle

Die Antwort der Ministerin vom Dienstag habt ihr ja schon

mb


Vielleicht kann ich meine LeserInnen über den weiteren Verlauf einer interessanten fachdidaktischen Diskussion auf dem Laufenden halten.

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